Die Sechsunddreißig Strategeme

die Kunst der List im Sanshiliu Ji Miben Bingfa,
ein Artikel von T.Schlaméus

Einführung

Im christlichen Abendland zählt man die List nicht gerade zu den Tugenden des edlen Menschen. Nicht selten hört man hier die tendenziöse Phrase, daß die List ein Charakterzug der Orientalen sei. Untersucht man allerdings, wie häufig Tricks, Finten, Schlichen und Täuschungen tatsächlich im Okzident angewendet wurden und werden, so kann behaupten, daß die Anwendung von Listen, mag sie im westlichen Denken auch keinen guten Ruf besitzen, ein auffälliges Phänomen innerhalb der europäischen Kulturgeschichte darstellt.

In der östlichen Geisteskultur kennt man sogar einen Listenkatalog. Sei es, daß es hin und wieder legitim erscheint, eine List anzuwenden, um Probleme auf unkonventionelle Weise zu lösen, sei es, daß es wichtig erscheint, die Möglichkeiten listigen Verhaltens zu kennen, um sich selbst zu schützen - die chinesische Sammlung der sechsunddreißig Strategeme bietet sich dem interessierten Leser an, die Kunst der List eingehend zu studieren, denn sie umfaßt viele Klassen und Varianten der List in übersichtlicher Form.




Schriftzeichen Sanshiliu Ji Miben Bingfa, in der Übersetzung
"36 Strategeme des Buches der Geheimen Kriegskunst"

Der Autor des aus der Ming-Zeit stammenden Werks Sanshiliu Ji Miben Bingfa ist unbekannt. Jedes Strategem ist in eine einprägsame Kurzform gefaßt worden, was dazu führte, daß viele dieser Strategeme in China geradezu Sprichwortcharakter angenommen haben. Die Struktur der chinesischen Sprache erschwert die präzise Formulierung abstrakter Inhalte, aus diesem Grunde wird in der chinesischen Kultur häufig mit bildhaften Gleichnissen gearbeitet.


  

Schriftzeichen Zhi, in der Übersetzung bedeutet
es sowohl "Weisheit" als auch "List"

Solche Analogien stehen dann vielfältiger Interpretation offen, und so ist es nicht verwunderlich, daß die Strategeme von verschiedenen Autoren sehr unterschiedlich gedeutet werden. In diesem Sinne ist die Auseinandersetzung mit dem Sanshiliu Ji Miben Bingfa auch immer ein Reflektieren über die Möglichkeiten der Kunst der List.

Um Spaß und Erkenntniszuwachs bei der Lektüre des Sanshiliu Ji Miben Bingfa zu garantieren, schlage ich dem Leser eine persönliche Studie der empfohlenen Strategeme vor. Im Zuge dieser Analyse sollten wir uns einerseits fragen, ob die Sammlung als systematisch gelten darf - stellt jedes Strategem tatsächlich eine eigene Klasse von Listen dar, die sich deutlich von anderen unterscheiden läßt? Und zweitens sollten wir fragen, ob die Sammlung vollständig ist - können wir jede in der Praxis denkbare List einem der sechsunddreißig Strategeme zuordnen?

Um die Ideen des Sanshiliu Ji Miben Bingfa zu veranschaulichen, habe ich in der griechischen Mythologie nach Listen gesucht, die den aufgeführten Strategemen entsprechen. Ich hoffe, daß die Einordnung dieser von abendländischen Helden und Antihelden angewandten Listen in die chinesische Sammlung des Sanshiliu Ji Miben Bingfa als Hinweis auf dessen universelle Gültigkeit überzeugen kann. Es kann nicht verwundern, daß in diesem Zusammenhang der Name des Odysseus mehr als einmal fällt, gilt er doch als der listigste aller Griechen.

Wie immer ein Hinweis zu den abgebildeten Schriftzeichen: In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat die chinesische Regierung im Rahmen einer großen Alphabetisierungskampagne viele traditionelle Zeichen vereinfacht, insbesondere sehr komplexe Zeichen wurden durch reduzierte Varianten ersetzt. Diese sogenannten Kurzzeichen Jiantizi werden in der Volksrepublik, Singapur und Malaysia benutzt, während die alten Langzeichen Fantizi von Taiwan und Hongkong verwendet werden. In den Illustrationen dieses Artikels werden Kurzzeichen verwendet.

 

Sanshiliu Ji Miben Bingfa - Die 36 Strategeme
des Buches der Geheimen Kriegskunst


1. Strategem - Den Kaiser täuschend das Meer überqueren

Den Hintergrund dieses Strategems bildet eine quasihistorische Geschichte, nach der Tang-Kaiser Tai Zong (626-649) nur durch eine List bewogen werden kann, mit seiner Armee über das Meer zu setzen, um das Koguryo-Reich anzugreifen. Als der Kaiser nämlich am Ufer des Meeres steht, plagen ihn Zweifel hinsichtlich des geplanten Waffengangs. Er zögert, die Mission zu vollenden.

Seine listigen Offziere laden den Kaiser zu einem am Meer wohnenden wohlhabenden Bauern ein. Es wird angedeutet, der Bauer könnte dem Kaiser Proviant für seine Truppen liefern. Tatsächlich hatte man ein Schiff so umgebaut, daß es wie ein Haus am Strand aussah, und so war es möglich, den Kaiser auf das Meer zu locken.




Man Tian Guo Hai - Den Kaiser täuschend das Meer überqueren

Während sich Tai Zong in das Gespräch mit dem reichen Bauern vertieft, beginnen plötzlich die Balken unter seinen Füßen zu schwanken. Der Kaiser bemerkt erst jetzt, daß er auf ein Schiff gelockt wurde und seine ganze Flotte bereits in See gestochen ist. Er wird gewissermaßen vor vollendete Tatsachen gestellt, und dies beflügelt seinen Kampfeswillen. Der Kaiser führt seine Truppen nun vertrauensvoll in die Schlacht...

Es ist nicht ganz einfach, den abstrakten Kern dieses Strategems zu erfassen. Mit Sicherheit handelt es sich zunächst einmal um ein Manöver, das eine Fassade der Normalität errichtet, um die Zielperson dann zu Handlungen zu bewegen, die sie unter anderen Umständen verweigert hätte.

Die von der Zielperson unter Annahme falscher Tatsachen ausgeführten Handlungen schaffen eine Realität, die für sie selbst in gewissem Sinne verbindlich wird. Ein weiteres Detail der Taktik besteht darin, daß die Zielperson einer Verlockung ausgesetzt wird, die Verlockung gewährleistet den Erfolg des gesamten Plans überhaupt. Zusammengefaßt: Eine Kulisse verschleiert die Realität und eine Verlockung veranlaßt die Zielperson zu Handlungen, deren Konsequenzen sie sich nicht entziehen kann.

In der griechischen Mythologie wird diese List in meisterhafter Weise von Odysseus angewendet: Nach zwanzig Jahren des Kriegführens und Umherirrens ((siehe Ilias und Odyssee) gelangt er endlich wieder nach Ithaka. Doch zu seinem Entsetzen muß er erfahren, daß sich eine Bande "frecher Frevler" in seinem Hause breitgemacht hat, Adlige anderer Fürstenhäuser Griechenlands, die seine Besitztümer verprassen und um seine geliebte Gattin Penelope freien.

Er plant, diesem schändlichen Treiben ein blutiges Ende zu bereiten, doch um seinen Plan zu verwirklichen, muß er zunächst die Lage sondieren, herausfinden, mit welchen Gegnern er es zu tun hat. So nutzt er das Täuschungsstrategem: Er betritt sein Haus in völliger Verwandlung - ungewaschen, in Lumpen gekleidet und ingesamt jämmerlich anzuschauen.

Als Bettler getarnt, wohnt er den Gelagen der Freier bei, inszeniert einen Wettkampf und bereitet schließlich äußerst listig seine blutige Rache vor. Dies alles gelingt ihm nur, weil seine Gegner sich an Aktivitäten beteiligen, die ihnen "normal" erscheinen - hätten sie gewußt, daß sich Odysseus unter ihnen befindet, dann wären sie aus Furcht vor seiner Rache geflüchtet...




2. Strategem - Wei belagern, um Zhao zu retten

Als historischen Hintergrund dieses Strategems vermutet man eine militärische Auseinandersetzung zwischen den Staaten Wei, Zhao und Qi im Jahre 354 v.Chr. Der Geschichtsschreiber Sima Qian gibt an, daß der Staat Wei den Staat Zhao angriff und dessen Hauptstadt belagerte. Zhao bat den Staat Qi um Hilfe. Die Armee von Qi griff nun die Hauptstadt des Reiches Wei an, zwang die Wei-Armee zur Aufgabe der Belagerung der Zhao-Hauptstadt, um der eigenen Hauptstadt zu Hilfe zu kommen. Es wird berichtet, daß die Wei-Armee beim Rückmarsch von der Qi-Armee in einen Hinterhalt gelockt und vernichtet wurde.




Wei Wei Jiu Zhao - Wei belagern, um Zhao zu retten

Es geht bei diesem Strategem also um die indirekte Bezwingung eines Gegners durch Bedrohung einer ungeschützten Stelle seiner Verteidigung. Im weitesten Sinne bedeutet dies jede Vorgehensweise, die mit dem Auskundschaften und Ausnutzen von Schwächen in der physischen oder psychischen Struktur des Gegners zusammenhängt.

Wir kennen eine solche Strategie aus der griechischen Mythologie, so beispielsweise im Falle der Geiselnahme des Polydoros, die in der Sage des Trojanischen Krieges beschrieben wird: Als die Griechen bemerken, daß der Kampf gegen die stark befestigte Stadt Troja ein äußerst schwieriges und langwieriges Unternehmen zu werden droht, versuchen sie das Problem auf listige Weise zu lösen.

Ursprünglich ging es den Griechen im Kampf gegen Troja ja einzig um die Rückeroberung der schönen Helena, die der Trojaner Paris aus Griechenland entführt hatte. Als dem mächtigen griechischen Helden Ajax im Umfeld der Kämpfe ein Sohn des Königs von Troja in die Hände fällt, sehen die Griechen ihr Chance gekommen.

Sie bieten Priamos, dem König von Troja, die Auslieferung seines Sohnes Polydoros an. Im Gegenzug soll Troja die schöne Helena freigeben. (Helena allerdings will gar nicht zurück, denn sie scheint sich bei Paris sehr wohl zu fühlen - doch das ist eine andere Geschichte.) Die Trojaner weigern sich, Helena auszuliefern, und so schlägt die List in diesem Falle fehl.

Die Griechen zögern nicht, sie steinigen Polydoros vor den Mauern Trojas unter den Augen seines Vaters Priamos. Es ist ein schrecklicher, langsamer Tod, den Odysseus und seine Krieger dem Jüngling bereiten. Immerhin dürfen die Trojaner den zerfetzten Leichnam bergen, um das Bestattungsritual durchzuführen.




3. Strategem - Mit dem Messer eines anderen töten

Die grundsätzliche Idee dieses Strategems ist nicht sonderlich schwer zu verstehen. Es geht darum, jemanden auszuschalten, ohne sich direkt daran zu beteiligen, mehr noch - man tötet, aber die Tat wird einem anderen zur Last gelegt. So gesehen kann sich die List entweder primär gegen das Mordopfer richten oder aber primär gegen den angeblich Schuldigen (also den "Besitzer des Messers") oder natürlich drittens gegen beide.

Es gibt jedoch auch eine vierte Variante, die vielleicht häufigste: Man beauftragt jemand anderen mit der Tötung des Opfers, weil man selbst dazu ganz einfach nicht in der Lage ist. Auch in diesem Falle tötet man "mit dem Messer eines anderen."




Jie Dao Sha Ren - Mit dem Messer eines anderen töten

Einen solcher Fall findet sich in den griechischen Sagen: Elektra will sich an ihrer Mutter Klytämnestra und dem Stiefvater Ägisth rächen, die gemeinsam ihren Vater Agamemnon umgebracht haben. Da sie allein zu dieser Tat nicht in der Lage ist, lebt sie lange Zeit in trostloser Stimmung am Hofe der Mutter, trauert um ihren Vater und ihren Bruder Orestes, der vermißt wird.

Als Orestes eines Tages endlich auftaucht, sieht sie ihre Gelegenheit zur Rache gekommen. Elektra bittet Orestes um Hilfe, und dieser steht ihr bei, denn auch er sinnt auf Rache. Er erschlägt seine Mutter Klytämnestra und ihren Gatten Ägisth. Elektra, die ihn zu dieser Bluttat aufgefordert hat, tötet auf diese Weise "mit dem Messer eines anderen".




4. Strategem - Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten

Im weitesten Sinne geht es hier darum, einen Mangel an Energie beim Gegner auszunutzen, d.h. anzugreifen, wenn der Feind erschöpft und schwach ist. Selbstverständlich kann es daher auch als Anwendung dieses Strategems gelten, wenn man Maßnahmen ergreift, die den Gegner zwingen, seine Kräfte zu erschöpfen, um ihn dann, in einem Zustand der Schwäche anzugreifen.




Yi Yi Dai Lao - Ausgeruht den erschöpften Feind erwarten

Im Kampf um Troja nutzt König Kyknos dieses Strategem, um dem Heer der Griechen schwere Verluste zuzufügen. Kyknos ist mit den Trojanern verbündet und erwartet die vom ersten Kampfe vor Troja heimkehrenden Griechen in einem Hinterhalt bei den griechischen Lagerstätten. Obwohl sein Überfall den Gegner nicht gänzlich überwältigt, gelingt es Kyknos allerdings unter den Griechen ein furchtbares Blutbad anzurichten, da diese bereits geschwächt vom Kampfe sind und von dem Angriff überrascht werden.




5. Strategem - Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen

Die Feuersbrunst steht in dieser Listenformel für eine Notlage. Es sind also die Notlagen des Gegners, die sich dem Listigen anbieten, um daraus Nutzen zu ziehen. Der große Stratege Sun Zi schreibt: "Wenn sich der Feind in Unordnung befindet, dann kann man sich seiner bemächtigen." Die Formel läßt sich allerdings nicht nur auf den Umgang mit Feinden anwenden. Grundsätzlich gilt, daß sich dem Listigen immer dort, wo eine Krise herrscht, wo eine Notlage Menschen in die Knie zwingt, im Guten wie im Bösen beträchtliche Chancen eröffnen...


Chen Huo Da Jie - Eine Feuersbrunst für einen Raub ausnützen

So sehen wir mit einigem Erstaunen, wie der edle Perseus die Notlage von König Kepheus und seiner Tochter ausnutzt, um sich ein Eheweib zu angeln: Perseus, ausgestattet mit magischen Flügeln, erblickt während seiner Reise durch Äthiopien die an eine Klippe geschmiedete und zur Opferung vorbereitete Jungfrau Andromeda, Tochter des Kepheus, der dem schrecklichen Schauspiel beiwohnt.

Als Perseus erfährt, daß Andromeda einem riesigen Hai zum Fraße vorgeworfen werden soll, um den Meeresgott milde zu stimmen, verhandelt er zügig die Bedingungen seines Beistandes. "Ich bin Perseus, Sprößling des Zeus und der Danae, ich habe die Gorgo besiegt, und wunderbare Flügel tragen mich durch die Luft. Selbst wenn die Jungfrau frei wäre und zu wählen hätte, wäre ich kein verächtlicher Eidam. Jetzt werbe ich um sie mit dem Erbieten, sie zu retten. Nehmt ihr meine Bedingungen an?"

Der König Kepheus willigt ein, wer hätte in dieser Lage gezögert? Perseus nutzt seine magischen Waffen und bringt das Untier zur Strecke. Auf diese Weise gewinnt er die herrliche Andromeda.




6. Strategem - Im Osten lärmen, im Westen angreifen

Nicht immer empfiehlt es sich, den Gegner frontal anzugreifen. Häufig ist ein Ablenkungsmanöver die geeignete Methode, um den wirklichen Angriff für gewisse Zeit zu verschleiern. Jede Vorgehensweise, die hilft, die Aufmerksamkeit von der eigentlichen Schlüsselaktion fortzulenken, kann hier als List genutzt werden.




Sheng Dong Ji Xi - Im Osten lärmen, im Westen angreifen

Während des Trojanischen Krieges engagieren sich auch die Götter für die eine oder andere Seite - so unterstützt der Göttervater Zeus die Trojaner, seine Gattin Hera hingegen nutzt ihre Macht, um den Griechen zu helfen. Dabei muß sie allerdings äußerst vorsichtig vorgehen, denn Zeus hat allen Göttern die Einmischung in den Kampf bei schwerer Strafe verboten. Als die Trojaner der gegnerischen Armee in einer heftigen Schlacht große Verluste zufügen und die Griechen bereits ihrem Untergang entgegensehen, wählt Hera eine List, um ihren Schützlingen beizustehen:

Sie leiht sich von Aphrodite den Zaubergürtel der Liebe und begibt sich auf den Gipfel des Ida, wo Zeus thront. Zeus ist von den Reizen seiner Gattin so fasziniert, daß er den Kampf der Trojaner gegen die Griechen für kurze Zeit vergißt. Auf diese Chance hatte Hera gehofft. Sie läßt Poseidon, dem Bruder des Zeus und Beschützer der Griechen, ein Zeichen übersenden.

Als dieser das vereinbarte Signal empfängt, weiß er, daß die Augen des Zeus nicht über dem Kampf wachen und stürzt sich ins Schlachtgetümmel, wo er den Verlauf des Kampfes zugunsten der Griechen beeinflußt.




7. Strategem - Aus einem Nichts etwas erzeugen

Die Idee dieses Strategems besteht in der Kreation einer Pseudorealität, die im Geist des Gegners eine falsche Vorstellung erzeugt. Unser Ziel ist es hier, den Gegner zu veranlassen, etwas zu tun, was uns nutzt, bzw. etwas zu unterlassen, was uns schaden könnte. In jedem Falle handelt es sich beim "Erzeugen aus dem Nichts" um eine Fiktion, um das Erschaffen von etwas, das in Wahrheit nicht existiert.




Wu Zhong Sheng You - Aus einem Nichts etwas erzeugen

Als im Sturme Trojas sich Telamon erdreistet, die feindliche Stadt vor dem Helden Herakles zu betreten, erwacht die schwarze Eifersucht in diesem, denn noch nie sah sich der Held in Tapferkeit von einem anderen übertroffen. Ein böser Gedanke erwacht in Herakles, er hebt das Schwert und ist im Begriff, den vor ihm schreitenden Telamon niederzuhauen.

Doch dieser blickt sich um und errät das Vorhaben des Herakles. Er wendet listig das Strategem "Aus einem Nichts etwas erzeugen" an, bückt sich und liest die nächst herumliegenden Steine auf. Herakles fragt ihn, was er denn tue. Darauf antwortet Telamon: "Ich baue Herakles, dem Sieger, einen Altar!" Das beschwichtigt den eifersüchtigen Zorn des Helden und rettet Telamon das Leben.




8. Strategem - Sichtbar die Holzstege instandsetzen, insgeheim nach Chencang marschieren

Diese List wird auch als Strategem der verschleierten Marschrichtung bezeichnet. Es geht dabei um eine Täuschung, die den Gegner über eigene Bewegungen im Ungewissen läßt. So kann ein Rückzug vorgetäuscht werden, obwohl man in Wirklichkeit den Angriff plant. Es ist außerdem möglich, zu suggerieren, daß man eine bestimmte Marschroute nutzen möchte (dort, wo die Holzstege repariert werden), obwohl ein ganz anderer Weg geplant ist.


An Du Chencang - Sichtbar die Holzstege instandsetzen,
insgeheim nach Chencang marschieren

Die griechische Mythologie kennt diese List aus dem Trojanischen Krieg. Sie bildet dort den Auftakt für den Einsatz des berühmten Hölzernen Pferdes. Eines Morgens stellen die Trojaner nämlich fest, daß die Griechen sich zurückgezogen haben.

An der Stelle, wo das griechische Heer während des Krieges lagerte, findet sich jetzt lediglich ein großes hölzernes Pferd, das die Trojaner für ein Weihegeschenk der Griechen halten. Da die Trojaner von der Flucht der Griechen überzeugt sind, schöpfen sie auch keinen Verdacht gegen das Pferd. Sie bringen es in ihre Stadt, wo sich etwas später der wirkliche Zweck des Pferdes auf schreckliche Weise offenbart.




9. Strategem - Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten

Hier geht es darum, eine Krisensituation beim Gegner lediglich zu beobachten, nicht einzugeifen, weder um Hilfe zu leisten, noch um die Notlage auszunutzen. Die hinter diesem Strategem stehende Idee basiert auf dem Gedanken, daß es manchmal klüger ist, die Dinge einige Zeit reifen zu lassen, um klarer beurteilen zu können, welche Handlungen notwendig sind.

Man wartet ab, bis sich die Situation den eigenen Interessen entsprechend günstig entwickelt oder zumindest für eine genaue Beurteilung geklärt hat und greift dann erst ein. Voreiliges Handeln könnte den Erfolg verderben, deshalb ist es häufig weise, sich zurückzuhalten.




Ge An Guan Huo - Die Feuersbrunst
am gegenüberliegenden Ufer beobachten

In der griechischen Sage um das tragische Schicksal von Medea und Jason, dem Argonauten, findet sich eine Stelle, die als Anwendung des Strategems "Die Feuersbrunst am gegenüberliegenden Ufer beobachten" gedeutet werden könnte.

Medea hatte große Schuld auf sich geladen: Sie raubte für Jason, in den sie verliebt war, das Goldene Vliess und stellte sich damit gegen ihren Vater. Sie war an der Ermordung und Zerstückelung ihres Bruders beteiligt, als die Argonauten vor der Armee des Aietes flüchteten. Doch diese Taten sollten nicht ungesühnt bleiben.

Nach zehnjähriger Ehe, wandte Jason sich einer anderen Frau, nämlich Glauke, Tochter des Korintherkönigs Kreon, zu. Er heiratete Glauke und bedrängte Medea, ihn freiwillig zu verlassen. Kreon, der neue Schwiegervater des Jason, beobachtete die verzweifelte Medea und schickte sich an, sie aus dem Lande zu verbannen. Doch dann schien es ihm klüger, damit zu warten.

Wir können darüber rätseln, welche Gründe Kreon dafür hatte. Sicher ist, daß er Medea lieber tot als lebendig gesehen hätte. So scheint es nicht ausgeschlossen, daß er sich einen Vorteil davon erhoffte, Medea vorerst nicht aus dem Land zu jagen.

Doch wie auch immer der Plan des Kreon ausgesehen haben mochte, die List des Abwartens stellte sich in diesem Fall als schwerer Fehler heraus. Medea nutzte die wenige verbliebene Zeit, um Glauke mit einem vergifteten Gewand listig zu töten und schließlich auch Kreon, sogar ihre eigenen Kinder, die sie mit Jason gezeugt hatte. Jason nahm sich aus Verzweiflung das Leben.




10. Strategem - Hinter dem Lächeln einen Dolch verbergen

Der Kerngehalt dieses Strategems ist leicht zu erfassen, es geht darum einen Gegner durch Freundlichkeit und schöne Worte einzulullen, seine Wachsamkeit zu schwächen, indem man sich bei ihm einschmeichelt und sein Vertrauen gewinnt. Hat man den Gegner soweit, versetzt man ihm aus nächster Nähe den tödlichen Stoß.




Xiao Li Cang Dao - Hinter dem Lächeln einen Dolch verbergen

Diese Taktik wendet Hermes an, der von Zeus den Auftrag erhalten hat, die schöne Io aus der Gefangenschaft des hundertäugigen Argos zu befreien. Hermes verkleidet sich als Hirte und begibt sich in die Nähe des Argos, der auf einem Hügel Wache hält. Der Götterbote spielt auf seiner Syrinx (Flöte aus Schilfröhren) und wird von Argos, den der überidrische Klang verzaubert, herbeigerufen.

Die beiden kommen ins Gespräch, und Hermes erwirbt das Vertrauen des Argos. Der Wächter schlummert schließlich ein. Hermes zieht ein verborgenes Schwert hervor und schlägt zu... Betrachtet man diese Taktik, so kann man feststellen, daß sie auf dem Gewinnen des Vertrauens beruht. Ein Wächter wie Argos würde sich keinesfalls in Gegenwart eines Fremden zur Ruhe legen, besäße dieser nicht sein vollstes Vertrauen.




11. Strategem - Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaums

Die Basis dieses Strategems besteht in der auch im Abendland weithin bekannten Taktik des Bauernopfers. Eine Unterteilung verschiedener Varianten dieses Strategems könnte so aussehen: sich selbst opfern, um andere zu retten oder den anderen opfern, um sich selbst zu retten oder irgendjemanden opfern, um einen Dritten zu retten oder ein kleines Opfer zu bringen, um etwas Wertvolles zu gewinnen. In jedem Falle findet ein Abwägen statt, und das Ergebnis fällt so aus, daß man das Kleinere zugunsten des Größeren aufgibt.




Li Dai Tao Jiang - Der Pflaumenbaum verdorrt anstelle des Pfirsichbaums

Im Abendland ist diese Vorgehensweise durch das Opfern der Iphigenia bekannt. Ihr Vater, König Agamemnon, gerät kurz vor der Schlacht um Troja in eine schwierige Situation: Seine versammelten Heere werden durch eine tiefe Windstille daran gehindert, über das Meer zu setzen und Troja anzugreifen. Die Weissagung des Sehers Kalchas ist eindeutig: "Wenn Agamemnon seine geliebte Tochter Iphigenia opfert, wird Fahrtwind kommen und der Zerstörung Trojas kein übernatürliches Hindernis im Wege stehen."

Agamemnon entscheidet sich schließlich für das geforderte Opfer - aus seiner Sicht eine zwar bittere, jedoch unumgängliche Wahl, denn in der Schlacht um Troja steht mehr als ein Menschenleben auf dem Spiel. (Die Schlacht wurde auch schließlich gewonnen, doch Agamemnon sollte für das Opfer büßen - seine Frau Klytämnestra vergab ihm den Kindesmord nicht und brachte ihn nach seiner Rückkehr vom Feldzug um.)




12. Strategem - Mit leichter Hand das Schaf wegführen

Dieses Strategem beschreibt eine psychische Disposition, die auf den ersten Blick unscheinbar wirkt, sich bei genauerem Hinsehen jedoch als seltende Tugend erweist: Es geht um die Fähigkeit, eine sich plötzlich und unerwartet bietende Chance augenblicklich zu ergreifen und auszunutzen.

Die Fähigkeit schnell, geistesgegenwärtig und präzise zu handeln, setzt eine geistige Präsenz voraus, die nur wenige Menschen verwirklicht haben. Es versteht sich von selbst, daß nur ein Mensch, der seine Umwelt genau und aufmerksam beobachtet, in der Lage sein wird, plötzliche Gelegenheiten zum Gewinn eines Vorteils auszunutzen.




Shun Shou Qian Yang - Mit leichter Hand das Schaf wegführen

Eine geistreiche Variante der Anwendung dieses Strategems erblicken wir in der wahrhaft skrupellosen Vorgehensweise zweier griechischer Helden im Kampf um Troja. Die Rede ist wieder einmal von Odysseus und von Diomedes. Die beiden Griechen befinden sich auf einer nächtlichen Erkundungsmission. Ihr Auftrag besteht darin herauszufinden, ob die trojanischen Krieger, die ihr Nachtlager unweit des griechischen Heeres aufgeschlagen haben, für den kommenden Tag die Rückkehr zur Stadt oder erneuten Angriff planen.

Während des Schleichganges bemerkt der stets wachsame Odysseus das leise Geräusch flinker Schritte, er und Diomedes begeben sich augenblicklich in Lauerposition und überraschen auf diese Weise einen feindlichen Späher. Dieser Mann, Dolon genannt, hatte den unglücklichen Plan, das griechische Heer auszukundschaften, und in grenzenloser Vermessenheit beabsichtigte er darüber hinaus den Raub von Wagen und Rossen des mächtigen Achilleus.

Die Geschichte nimmt eine brutale Wendung und ein noch brutaleres Ende: Nachdem Odysseus und Diomedes den trojansichen Späher überwältigt haben, verhören sie ihn, nicht ohne ihm die Lüge von möglicher Schonung aufzutischen und erfahren auf diese Weise von den Schwachpunkten des trojanischen Lagers. Danach töten sie Dolon, indem sie ihm den Kopf abschlagen. Sie teilen seine Waffen und seine Rüstung unter sich auf und begeben sich zum Nachtlager der Trojaner.

Dort finden sie, wie erwartet, einige thrakische Krieger und deren König Rhesos schlafend vor. Sie töten mindestens ein Dutzend Männer im Schlafe, unter den Gemeuchelten ist auch Rhesos, der König. Schließlich rauben die beiden Griechen Rosse und Wagen des Rhesos und verschwinden nach diesem schändlichen Werk im Schutze der Nacht.

Odysseus zeigt hier, wie schnell er einen Plan ändern kann, wenn sich die Chance auf den Gewinn eines Vorteils bietet. Eigenartig an dieser Geschichte ist, daß die Griechen das ursprüngliche Ziel ihrer Mission sofort aufgaben, als sich ihnen die Chance auf Meuchelmord und Raub bot. Diese Entscheidung scheint dem allgemeinen Verständnis nach angemessen gewesen zu sein, denn der erfolgreiche Raubzug wurde bei der Heimkehr der beiden Helden ins griechische Lager von den anderen Helenen mit großem Jubel und Beifall bedacht.




13. Strategem - Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen

Ist ein Gegner zurückhaltend und unergründlich, so kann man die List der Provokation anwenden, um ihn zu enttarnen oder um herauszufinden, wie er reagiert. Dabei sind viele Methoden denkbar. Meist fällt eine Art Warn- oder Schreckschuß, der den Gegner veranlaßt, wertvolle Informationen preiszugeben.




Da Cao Jing She - Auf das Gras schlagen,
um die Schlangen aufzuscheuchen

Als Thetis, die Mutter des jungen Achilleus, vom Orakel erfährt, daß ihr Sohn sich eines Tages am Feldzug gegen Troja beteiligen und dabei den Tod finden wird, steckt sie den Knaben in Mädchenkleider und gibt ihn in die Obhut des Königs Lykomedes, wo Achilleus als Jungfrau verkleidet im Kreise der Königstöchter aufwächst.

Jahre später wird Odysseus geschickt, um Achilleus ausfindig zu machen und in den Krieg zu holen. Als man Odysseus in einen großen Saal voller Jungfrauen führt, zwischen denen man auch Achilleus verbirgt, greift Odysseus zur List "Auf das Gras schlagen, um die Schlangen aufzuscheuchen". Er läßt Schild und Speer bringen und dann die Kriegstrompete blasen, so als ob der Feind im Heranrücken wäre.

Bei diesem Schrecken fliehen alle Frauen aus dem Saal, Achilleus aber bleibt mutig allein, greift Speer und Schild und offenbart sich auf diese Weise als künftiger Held.




14. Strategem - Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen

Hinter dem bizarren Namen dieses Strategems verbirgt sich im Grunde lediglich die Idee, Dinge in unkonventioneller Weise nützlich einzusetzen. Die Geschichte, die dem Strategem seinen Namen gab, berichtet von dem korrupten Beamten Yue Shou, der vor Schreck stirbt, als ihm durch einen kaiserlichen Abgesandten der Hinrichtungsbefehl überbracht wird.

Der unsterbliche Daoist Lü Dongbin sieht in Yue Shou allerdings einen wertvollen Menschen, er bittet den Höllenfürsten, ihn auf die Oberwelt zurückzuschicken, damit er ihn als Schüler aufnehmen und unterrichten könne. Der Höllenfürst will der Bitte nachkommen, aber der Leichnam Yue Shous ist bereits verbrannt worden. Deshalb läßt der Daoist die Seele Yue Shous in den unversehrten Körper des gerade verstorbenen jungen Schlächters Li fahren und sagt: "Ich lasse dich jetzt einen Leichnam für die Rückkehr deiner Seele ausleihen."




Jie Shi Huan Hun - Für die Rückkehr der Seele einen Leichnam ausleihen

Im engeren Sinne kann man hier von einer Taktik sprechen, die alten Dingen oder Sachverhalten ein neues Etikett aufprägt. Im weiteren Sinne, fallen jedoch alle Listen in die Kategorie dieses Strategems, die nach ungewöhnlichen Nutzungsmöglichkeiten von Dingen suchen, die eigentlich für einen anderen Zweck bestimmt sind. So ist es eben nicht der "richtige" Zweck des Leichnams von einer aus dem Totenreich zurückkehrenden Seele in Besitz genommen zu werden. Aber weil die Idee funktioniert und kaum andere Optionen bleiben, wendet der Daoist sie an.

In der griechischen Mythologie verwendet Perseus im Kampf gegen die Gorgo Medusa einen Gegenstand ebenfalls auf sehr unkonventionelle, listenreiche Weise. Da der Anblick des Ungeheuers jeden Menschen zu Stein verwandelt, fängt Perseus das Spiegelbild der Schrecklichen in seinem glänzenden Schild auf. So gelingt es ihm, den tödlichen Schwerthieb zu führen, ohne die Medusa direkt anzuschauen...




15. Strategem - Den Tiger vom Berg in die Ebene locken

Hier geht es darum, den Gegner zu veranlassen, seinen Schutz zu vernachlässigen. So wie man den Tiger eben nicht oben auf dem Berg erlegen kann, weil dies sein Territorium ist, in dem er jeden Schlupfwinkel kennt, ihn also nach unten, in die Ebene locken muß, so sollte man auch seinen Gegner veranlassen, sich zu exponieren.

Im weiteren Sinne umfaßt dies jede List, die den Gegner verleitet, sich in für ihn ungünstige Situationen zu begeben. Diese Situationen sind durch taktische Schwierigkeiten des Gegners gekennzeichnet, beispielsweise fehlender Schutz, mangelnde Mobilität etc.




Diao Hu Li Shan - Den Tiger vom Berg in die Ebene locken

Herakles wendet diese Taktik im Kampf gegen die übermächtige Armee der Minyer an. Er lockt seine Feinde in eine enge Felsschlucht, in dieser beengten Situation ist die Größe ihrer Heeresmacht den Minyern nicht von Nutzen. Herakles siegt über seine Feinde, weil er es verstanden hat, "den Tiger vom Berg in die Ebene zu locken".




16. Strategem - Will man etwas fangen, muß man es zunächst loslassen

Die eigentliche Idee hinter diesem Strategem ist dunkel. Man hat sie in verschiedenen Varianten gedeutet. In Anlehnung an den großen Strategen Sunzi kann man das Strategem in dem Sinne interpretieren, daß ein Feind, der in eine ausweglose Lage manövriert wurde, möglicherweise extreme Selbsterhaltungskräfte mobilisiert.

Aus diesem Grunde rät Sunzi, dem Gegner stets - zumindest dem Schein nach - eine Rückzugsmöglichkeit zu bieten. Das Ziel dieser Methode besteht darin, den Feind von unkontrollierbaren Ausbrüchen abzuhalten, um ihn dosiert "kleinzuhacken".




Yu Qin Gu Zong - Will man etwas fangen,
muß man es zunächst loslassen

Wir haben bereits auf ein Beispiel für die skrupellose Anwendung dieses Prinzips hingewiesen, als die Ermordung des Dolon durch Odysseus und Diomedes besprochen wurde. Die beiden Griechen hatten den feindlichen Späher gefangen und wollten ihn verhören.

Dolon fürchtete um sein Leben, doch Odysseus beruhigte ihn mit den Worten. "Sei getrost, und mach dir keine Todesgedanken, aber sage uns die Wahrheit..." Nachdem die Helenen den Trojaner verhört hatten, schlugen sie ihm den Kopf vom Rumpf.

Es darf bezweifelt werden, daß Dolon in vollem Wissen um sein bereits feststehendes Todesurteil so bereitwillig Auskunft erteilt hätte. Die beiden Griechen wußten den Trojaner - in aus heutiger Sicht perfider Weise - zu täuschen, um ihn zum Verrat zu bewegen.




17. Strategem - Einen Backstein hinwerfen, um einen Jadestein zu erlangen

Bei diesem Strategem geht es darum, durch eine unbedeutende Gabe einen großen Gewinn zu erzielen. Dabei liegt eine Täuschung über die realen Werte des Gegebenen und des Genommenen in der Natur der Sache, denn der Plan würde in nur wenigen Fällen aufgehen, wenn die realen Werte der zu überlistenden Person bekannt wären. Wir können davon ausgehen, daß sich dem Kerngehalt alle Formen von Verträgen zuordnen lassen, bei denen eine Partei durch Vorspielung eines in Wahrheit nicht vorhandenenen bzw. zu geringen Nutzens betrogen wird.




Pao Zhuan Yin Yu - Einen Backstein hinwerfen,
um einen Jadestein zu erlangen

So beabsichtigt Prometheus, den allmächtigen Zeus zu betrügen, indem er ihm anbietet, zwischen den ungleichen Hälften eines getöteten Opferstiers zu wählen. Prometheus hat listige Vorkehrungen getroffen: Beide Teile sind von Stierhaut überzogen, der Inhalt ist also unsichtbar, und die äußerlich größere Hälfte besteht in Wirklichkeit nur aus Knochen, während die kleinere Hälfte Fleisch, Innerein und Speck enthält.

Prometheus spekuliert darauf, daß Zeus die größere Hälfte des Opferstiers für die Himmlischen wählt und den Menschen die kleinere, in Wirklichkeit jedoch wertvollere Hälfte überläßt. Diese Strategie läßt sich in der Tat beschreiben, als "Hinwerfen eines Backsteins, um einen Jadestein zu erlangen".




18. Strategem - Will man eine Räuberbande unschädlich machen, muß man den Anführer fangen

Im Kampf gegen einen Gegner ist es grundsätzlich wichtig, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren, seine Zentralstelle zu erkennen und diese, wenn möglich, auszuschalten. Folgt man diesem Gedanken, dann erscheint es logisch, daß der Anführer der gegnerischen Formation das wichtigste Ziel darstellt.




Qin Zei Qin Wang - Will man eine Räuberbande unschädlich machen,
muß man den Anführer fangen

Nachdem Kyknos, König der Kolonaier, den vom ersten Kampf vor Troja heimkehrenden Griechen einen Hinterhalt gelegt und im Überfall schwere Verluste beigefügt hat, wird er selbst Opfer einer Kriegslist. Der mächtige Achilleus nämlich sucht im Schlachtengewühl nach dem Anführer der Kolonaier, um ihn zu töten und damit der feindlichen Heeresmacht den Kopf abzuschlagen.

Als Achilleus Kyknos entdeckt, lenkt er seine Rosse zu ihm hin und schleudert seinen Speer. Doch Kyknos, ein Sohn des Poseidon, besitzt einen zu Eisen gehärteten Körper, der Speer prallt ab. Als auch drei weitere Würfe nichts bewirken, springt Achilleus, schäumend vor Wut, zu Kyknos herüber und schlägt zunächst mit dem Schwerte und als dies ebenfalls keine Wirkung zeigt mit seinem schweren Schild auf Kyknos ein.

Kyknos wird vom Schild des Achilleus mehrfach an der Schläfe getroffen und beginnt zu taumeln. Achilleus packt ihn, stößt ihn zu Boden, stemmt sich mit Schild und Knien auf die Brust des Liegenden und erwürgt Kyknos schließlich mit seinem eigenen Helmband. Als die Kolonaier sehen, daß ihr Anführer getötet wurde, verläßt sie der Mut, und sie ergreifen die Flucht.




19. Strategem - Unter dem Kessel Brennholz wegziehen

Hier geht es im grundsätzlichen Sinne um eine Problemlösungstaktik, die den Ursachen der Schwierigkeiten zu Leibe rückt, sozusagen die Wurzel des Übels angreift. Wollen wir das Handeln des Gegner unterbinden, so müssen wir uns fragen, was diesem Handeln Energie verleiht, wo ist die Kraftquelle, die das Tun des Gegners speist? Ist es uns möglich, unserem Gegner "unter dem Kessel das Brennholz wegzuziehen", dann wird ihn das zur Aufgabe zwingen.




Fu Di Chou Xin - Unter dem Kessel Brennholz wegziehen

Herakles wendet diese Taktik im Kampf gegen die neunköpfige Hydra, eine mörderische Riesenschlange, an. Herakles sucht zunächst den Sieg über die Hydra zu erringen, indem er der Reihe nach jeden ihrer Köpfe mit seiner schweren Keule einschlägt. Das Problem dabei ist jedoch folgendes: Immer wenn ein Kopf der Hydra zerschmettert zu Boden fällt, erwachsen dem Ungetüm zwei neue Häupter.

So ruft Herakles seinen Gefährten Jolaos herbei und befiehlt ihm, die blutigen Stümpfe der Hydrahälse, aus denen die neuen Köpfe wachsen, mit einer Fackel stets sofort auszubrennen. Und da nun keine neuen Häupter nachwachsen können, ist Herakles in der Lage, alle Köpfe der Hydra zu zertrümmern und das Untier auf diese Weise zu bezwingen.




20. Strategem - Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen

Fische, die ihrer klaren Sicht beraubt im Trüben schwimmen, lassen sich leicht packen. Ein Feind, der die Orientierung verloren hat, ist leicht zu überwältigen. Dieses Strategem zielt darauf ab, Verwirrung und Chaos zu stiften, um daraus Vorteil zu ziehen.




Hun Shui Mo Yu - Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen

Als Musterbeispiel für die Anwendung dieses Strategems muß die Überlistung des Zyklopen Polyphemos durch den Troja-Zerstörer Odysseus gelten. Der griechische Held war nach dem Fall Trojas während der Heimfahrt in die Gefangenschaft des menschenfressenden Polyphemos geraten.

Nachdem dieser in seiner Höhle mehrere Kameraden des Odysseus mit Haut und Haaren verspeist hatte, entwickelte Odysseus eine List nach dem Prinzip "Das Wasser trüben, um die Fische zu fangen" und zwar in doppelter Hinsicht.

Zunächst versetzte er den Zyklopen durch massive Verabreichung von Wein in einen bewußtseinsgetrübten Dämmerzustand. Dann rammten er und seine Kameraden einen großen hölzernen, gespitzten und gehärteten Pflock in das einzige Auge des Ungetüms und nahmen ihm so vollends die Orientierung.

Als darauf Polyphem, der ein passionierter Schaf- und Ziegenhirte war, rasend vor Schmerz und Wut seine Tiere aus der Höhle ließ, vermutlich um anschließend in seiner Behausung reinen Tisch zu machen, verbargen sich die Helenen angebunden unter den Bäuchen der kräftigen Widder und gelangten auf diese Weise in die Freiheit.

Die Befreiung gelang also, weil Odysseus es verstand, das "Wasser zu trüben" und seinen Gegner in die Irre zu führen.




21. Strategem - Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden Hülle

Wir haben es hier mit einem Prinzip zu tun, das häufig während einer Flucht aber auch als Kontermanöver Anwendung findet und primär auf den Faktor Ablenkung setzt: Man entzieht sich einem Angriff oder einer Verfolgung durch den Trick, die Aufmerksamkeit des Gegners auf einen Nebenschauplatz zu fokussieren. Während der Gegner also auf die "goldglänzende Hülle" starrt, umgeht man ihn, entweder, um zu flüchten oder um ihm in den Rücken zu fallen.




Jin Chan Tuo Qiao - Die Zikade entschlüpft ihrer goldglänzenden Hülle

Ein in seiner Rücksichtslosigkeit erschreckendes Beispiel für den Einsatz dieses Strategems sehen wir, wenn wir das Fluchtmanöver der Argonauten aus dem Lande der Kolcher untersuchen: Medea, Tochter des Kolcher-Königs Aietes, hatte dem Argonauten Jason geholfen, ihrem Vater das Goldene Fließ zu rauben und befindet sich nun mit den Argonauten auf der Flucht.

Eine Flotte von Kolcher-Kriegsschiffen nimmt die Verfolgung auf. Sie wird von Medeas Bruder, Absyrtos, kommandiert. Als die Schiffe des Absyrtos die Argonauten schließlich stellen, bieten diese den Kolchern einen Handel an, um blutigen Kampf zu vermeiden.

Die Kolcher stimmen zu, nicht ahnend, daß der vorgeschlagene Handel lediglich ein Ablenkungsmanöver darstellt. Medea lockt ihren Bruder nachts zu einem geheimen Treffen, indem sie in einer per geheimen Boten überstellten Nachricht andeutet, nicht freiwillig bei den Argonauten sondern vielmehr Jasons Geisel zu sein.

Die Täuschung gelingt. Absyrtos "starrt auf die goldglänzende Hülle", hält Fiktion für Wahrheit und begibt sich zu dem geheimen Treffen. Dort wird er freilich von Medea und Jason ermordet. Anschließend überwältigen die Argonauten die ihres Anführers beraubten Kolcher. Sie töten ausnahmslos alle Männer des Absyrtos und setzen ihre Flucht vor den Truppen des Aietes fort.




22. Strategem - Die Türe schließen und den Dieb fangen

Im engeren Sinn kann diese List als ein Manöver verstanden werden, das darauf abzielt, den Gegner in einem begrenzten Raum einzuschließen, somit an der Flucht zu hindern, um ihn dann niederzumachen. Dies kann entweder geschehen, indem man ihn von außerhalb umzingelt oder tatsächlich in ein Gebäude lockt, dessen Ausgänge versperrt sind.




Guan Men Zhuo Zei - Die Türe schließen und den Dieb fangen

Odysseus wendet dieses Strategem an, um jene Prasser zu richten, die sich während seiner Abwesenheit im Hause des Helden festgesetzt haben und seiner Gattin Penelope den Hof machen. Als alle Freier in der Halle des Hauses versammelt sind, aus der in der Nacht alle Rüstungen und Waffen entfernt wurden, schließen die Diener auf Odysseus´Geheiß jede Tür und verriegeln sie.

Da nun alle Fluchtmöglichkeiten genommen sind, kann sich Odysseus mit Pfeil, Bogen, Schwert, Helm, Schild und Lanze daran machen, seine unbewaffneten Gegner niederzumetzeln. Das Morden dauert einige Stunden, und kein Freier entrinnt der Rache des wutschäumenden Helden.




23. Strategem - Sich mit einem fernen Feind verbünden, um einen nahen Feind anzugreifen

Bei diesem Strategem geht es darum, sich durch Verbünden mit einem Feind Vorteile im Kampf mit einem anderen Feind zu sichern. Der "ferne Feind" ist derjenige, den man durchaus auch später noch effizient bekämpfen kann. Vom "nahen Feind" hingegen geht eine akute Bedrohung aus.

Da der "ferne Feind" nicht so gefährlich ist, wie der "nahe Feind", kann man ein befristetes Bündnis mit ersterem eingehen, um letzteren zu besiegen. Hat man das erreicht, spricht nichts dagegen, das Bündnis aufzukündigen und auch den "fernen Feind" zu unterwerfen.




Yuan Jiao Jin Gong - Sich mit einem fernen Feind verbünden,
um einen nahen Feind anzugreifen

Odysseus, der Listenreiche, wendet dieses Strategem an, als er sich entschließt, mit seinem Todfeind Palamedes in einer Gesandtschaft zusammenzuarbeiten, um den trojanischen König, Priamos, davon zu überzeugen, die von Paris nach Troja verschleppte Helena herauszurücken.

Odysseus weiß, daß ein grausamer Krieg zwischen Helenen und Trojanern nur verhindert werden kann, wenn am Hofe des trojanischen Feindes ein Handel durch Einschüchterung erwirkt wird.

So unterstützt Odysseus den wortgewandten Palamedes im Versuch, den Trojanern vor Augen zu führen, welche Konsequenzen der Stadt drohen, wenn man Helena nicht freiläßt.

Wie wir wissen, scheitert dieser Plan. Odysseus fühlt sich bereits nach der Rückkehr aus Troja nicht mehr verpflichtet, Palamedes zu schonen. Er intrigiert gegen ihn, es kommt zu einer Gerichtsverhandlung. Die Listen des Odysseus haben Erfolg: Der unschuldige Palamedes wird wegen angeblichen Verrats gesteinigt. Odysseus hatte freilich die Beweise gefälscht.




24. Strategem - Einen Weg für einen Angriff gegen Guo ausleihen

Der Name des Strategems leitet sich aus der Idee ab, im Staate Yu einen Durchmarsch zu erbitten, um dessen Nachbarstaat Guo anzugreifen. Nachdem Guo besetzt wurde, greift man allerdings auch Yu an.

Allgemein ausgedrückt beinhaltet dieses Strategem das Prinzip, jemanden zu veranlassen, "sein eigenes Grab zu schaufeln". Durch List wird erreicht, daß der Gegner dabei mithilft, sich selbst zu vernichten.

Es ist die Taktik, jemanden leutselig darum zu bitten, ein Messer aus der Küche zu holen, um ihn dann damit niederzustechen.




Jia Tu Fa Guo - Einen Weg für einen Angriff gegen Guo ausleihen

Eine Variante der Anwendung dieses Strategems findet sich im Plan des Königs Kreon, der sich darum bemüht, den in der Verbannung befindlichen Ödipus zur Rückkehr nach Theben zu bewegen. Die Hintergründe der Verbannung sind aus der Ödipussage wohl bekannt:

Ödipus, Sohn des Thebenkönigs Laios wurde von seinen Eltern kurz nach seiner Geburt in der Wildnis ausgesetzt, denn ein Orakel prophezeite seinem Vater, dieser werde durch die Hand seines Sohnes sterben.

Durch glückliche Umstände wird Ödipus allerdings vor dem Tode gerettet und wächst am Hofe des Königs Polybos auf, nicht wissend, daß er ein Abkömmling des thebanischen Königshauses ist. Und so geschieht das Furchtbare: In der Folge seiner Unkenntnis und einiger zusätzlicher Irrtümer erschlägt er bei einem Handgemenge seinen wirklichen Vater Laios und heiratet später seine Mutter Jokaste.

Als sich schließlich alles aufklärt, bricht Ödipus unter der Last seines Frevels zusammen. Er durchbohrt seine Augen und begibt sich in die Verbannung. Sein skrupelloser Schwager Kreon ergreift die Chance, und statt dem unglücklichen Ödipus in der Not beizustehen, übernimmt er den Thron.

Als jedoch eine Prophezeiung bekannt wird, nach der Kreon in Gefahr sei, solange Ödipus außerhalb seiner Heimat umherirrt, bittet Kreon seinen Schwager heimzukehren. Seine eigentliche Absicht besteht darin, Ödipus in einem entlegenden Winkel des thebanischen Königreiches zu arrestieren.

Die Einladung ist also eigentlich ein Plan, nach dem sich Ödipus freiwillig ans Messer liefern soll. Ödipus allerdings durchschaut die List, und mit Hilfe des Helden Theseus kann er den fortgesetzten Angriffen des Kreon widerstehen. Die List "Einen Weg für einen Angriff gegen Guo ausleihen" geht in diesem Falle also nicht auf.




25. Strategem - Die Tragbalken stehlen und die Stützposten austauschen

Die Anwendungsmöglichkeiten dieses Strategems sind vielfältig. Im Grunde geht es darum, eine äußere Fassade stehenzulassen, während das Innere verändert wird. Das bedeutet also ein Aushöhlen, ein zunächst nicht erkennbares Umformen zu betreiben. In diese Kategorie fallen alle Taktiken, die den äußeren Anschein erwecken, die bisher wirksame Normalität würde nicht verändert, dabei jedoch das Wesentliche (das Innere) der Situation modifizieren.




Tou Liang Huan Zhou - Die Tragbalken stehlen
und die Stützposten austauschen

Herakles macht von diesem Strategem Gebrauch, um Prometheus zu befreien, den Zeus durch einen Urteilsspruch an den Kaukasus kettete. Der Gefangene soll dort an einem Abgrund mindestens dreißigtausend Jahre hängen, aufrecht, schlaflos, niemals imstande, das müde Knie zu beugen, gequält von einem Adler, der als täglicher Gast an seiner Leber frißt. Die Qual des Prometheus soll nicht eher enden, bis ein Ersatzmann erscheint, der sich durch freiwillige Übernahme des Todes als sein Stellvertreter anbietet.

Herakles erschießt zunächst den Adler, der sich an Prometheus Leber weidet, löst dann die Fesseln des Gequälten und stellt als Ersatzmann den Kentaueren Chiron, der eigentlich unsterblich ist, sich aber nach dem Tode sehnt. Außerdem rät er dem Prometheus, einen eisernen Ring zu tragen, an dem sich ein kleiner Stein des Kaukasus-Felsens befindet. So wird dem Zeus-Urteil formal entsprochen, nachdem ja Prometheus für lange Zeit an den Felsen gekettet sein soll. Herakles zeigt hier, wie die Fassade des Zeusurteils erhalten bleibt, doch dessen eigentlicher Kern - die von Zeus beabsichtigte Qual des Prometheus - ausgehöhlt wird.


 

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Im dritten und letzten Teil dieses Artikels werden die Strategeme 26 bis 36 behandelt.

 

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