Worauf gründet der Respekt vor dem
Kung Fu-Meister?

ein Artikel über die Ursprünge der Meisterverehrung
in den chinesischen Kampfkünsten, von T.Schlaméus


Einleitung
Wie ein Schüler seinen Respekt ausdrücken soll
Die patriarchalische Familie
Die Bedeutung des Lernens
Der Kung Fu-Meister, ein Lehrer-Vater
Die Kung Fu-Familie
Das Wude - Die Moral des Kriegers
Diskussion - Wie zeitgemäß ist die traditionelle Verehrung des Meisters?



Einleitung

Die Verehrung des Meisters ist im Kung Fu ein zentraler Aspekt der Lehrmethode, ja sie ist ein zentraler Aspekt der chinesischen Kampfkunst überhaupt. Jeder ernsthafte Schüler des Kung Fu (Wushu) ist traditionell zur deutlichen Demonstration von Respekt und Wertschätzung gegenüber seinem Meister verpflichtet. Dabei gehen die Forderungen nach Respektsbekundung weit über das hinaus, was einem Europäer einsichtig erscheinen mag.

Hier stellt sich also zumindest für Nichtasiaten die Frage, auf welchen Bedingungen die Sitte der Meisterverehrung in der chinesischen Kampfkunst beruht. Haben wir es hierbei lediglich mit einem anderen Verständnis dessen zu tun, was ein Schüler generell seinem Lehrer schuldet? Geht es um die Frage der Anerkennung überlegenen Könnens?

Aus den genannten Problemstellungen ergibt sich natürlich eine grundsätzliche Diskussion - eine Diskussion, in der darüber gestritten werden muß, ob die in den chinesischen Kampfkünsten übliche Meisterverehrung inbesondere in Europa eine heute noch gültige Sitte darstellt oder ob sie eher als Relikt einer veralteten, feudalistischen Unterwerfungsmentalität zu werten ist.


Wie ein Schüler seinen Respekt ausdrücken soll

Es existieren in den Schulen der chinesischen Kampfkunst sehr genaue Vorstellungen darüber, wie ein Schüler seinen Respekt gegenüber dem Lehrer ausdrücken soll. Die wichtigsten Punkte dabei sind:

1. Der Lehrer darf (im Unterricht) niemals nur mit seinem Namen angesprochen werden. Die korrekte Anrede nennt immer den ehrenden Titel, also entweder Shifu bzw. Laoshi oder einen anderen Meistertitel, der in der entsprechenden Schultradition verwendet wird.


    

Schriftzeichen Shifu, wörtlich "Lehrer-Vater" und
Laoshi, wörtlich "Alter Lehrer"

2. Es ist für die Schüler (Dizi) unangemessen, ja man kann sagen verboten, den Meister im Unterricht kameradschaftlich zu berühren, zu umarmen, zu necken usw. Viele Meister wünschen derartige "Intimitäten" auch außerhalb des Unterrichts nicht, da eine so große körperliche Nähe die Grenzen der Hierarchie verwischt.




Schriftzeichen Dizi, in der Übersetzung "Schüler"

3. Befindet sich der Meister in der unmittelbaren Nähe des Schülers, dann soll dieser gerade und aufrecht stehen, nicht seine Arme in die Seiten stemmen, sie nicht vor der Brust verschränken, nicht die Hände in den Hosentaschen halten, nicht auf dem Boden sitzen oder liegen, generell es sich nicht "bequem" machen (z.B. auf einer Bank oder einem Sessel loungieren).

4. Findet eine Unterweisung oder Demonstration durch den Meister statt, dann gilt es als hochgradig unangemessen, nicht zuzuhören, die Augen zu schließen, wegzuschauen usw.

5. Ein Schüler sollte niemals zu spät zum Unterricht erscheinen, denn dies sagt, daß er die Unterweisung durch den Meister, die traditionell als unbezahlbares Geschenk gilt, nicht wertzuschätzen weiß.

Im Gegensatz dazu ist der Schüler verpflichtet auf den Lehrer zu warten, falls dieser später zum Unterricht erscheint. Es existieren viele Geschichten darüber, wie Kung Fu-Meister ihre Schüler immer wieder warten lassen, um herauszufinden, welche Schüler die nötige Geduld aufbringen und den traditionell geforderten Respekt demonstrieren.

6. Ein Schüler sollte den Unterricht nicht vorzeitig abbrechen, und er sollte die Unterrichtshalle (Guan) auch nicht vor dem Meister verlassen. Traditionell kommt der Meister als letzter und geht als erster. Erklärt der Meister nach dem Ende des Unterrichts einigen Schüler noch etwas, dann sollten sich die Schüler, die die Halle verlassen, zunächst in Richtung des Meisters verbeugen und erst danach aus der Halle gehen.




Schriftzeichen Guan, hier im Sinne des
Begriffs "Übungshalle"

7. Bei gesellschaftlichen Zusammenkünften gilt als selbstverständlich, daß die Schüler niemals sitzen, wenn der Meister steht, außer er fordert sie dazu auf. Dem Meister wird immer der beste Platz zum Sitzen angeboten, man beginnt niemals mit dem Essen oder Trinken, bevor der Meister ißt oder trinkt. Überreicht man dem dem Meister einen Gegenstand, dann ist dies stets mit beiden Händen zu tun.

8. Es versteht sich außerdem von selbst, daß es einem Schüler absolut verboten ist, sich gegenüber seinem Meister in irgendeiner Weise frech, provokant oder besserwisserisch zu verhalten oder sonstwie anmaßend zu sein. So ist es beispielsweise völlig unangemessen, auf eine Unterweisung oder Erklärung des Lehrers zu antworten, daß man dies bereits wisse, auch wenn das der Wahrheit entspricht.

9. Niemals darf sich ein Schüler anmaßen, dem Lehrer vorzuschlagen oder gar vorzuschreiben, was oder wie dieser ihn zu unterrichten hätte. Eine solche Verfahrensweise unterstellt dem Lehrer, daß er nicht wüßte, was zu tun sei und ist deshalb völlig inakzeptabel.

10. Schließlich soll ein Schüler Respekt gegenüber seinem Meister ausdrücken, indem er drei wesentliche Qualitäten eines Kung Fu-Übenden demonstriert: den Wunsch zu lernen, die Hingabe zur Übung und die Disziplin beim Training. Diese drei Qualitäten zeigen dem Lehrer, daß sein Schüler sich als würdig erweist, in der Kunst unterrichtet zu werden.


Die patriarchalische Familie

Man kann die in den chinesischen Kampfkünsten übliche Meisterverehrung nicht verstehen, wenn man die überkommene Struktur der chinesischen patriarchalischen Familie nicht versteht. Das Ideal der Familie basiert entsprechend konfuzianischer Vorstellungen auf einem hierarchischen Modell. Wie wir wissen, hat die Lehre des Konfuzius (551-479 v.Chr.) die gesamte chinesische Kultur nachhaltig geprägt, und auch wenn hin und wieder behauptet wird, der Konfuzianismus sei tot, so ist dem entgegenzuhalten, daß er sich in den letzten Jahrhunderten trotz aller gegenteiligen Behauptungen als äußerst vitale Kraft erwiesen hat.

Das konfuzianische Modell der Familie gründet auf dem Patriarchat, das heißt auf der herausragenden Stellung des Vaters als Sippenoberhaupt. Obwohl Konfuzius diese patriarchalische Familienhierarchie ethisch begründet hat, so war sie dennoch nicht seine "Erfindung". Für das China des zweiten vorchristlichen Jahrtausends können noch vereinzelte Spuren matriarchalischer Familienstrukturen nachgewiesen werden, "aber seit dem Beginn der historisch faßbaren Zeit... war die patriarchalische Familie bereits so fest etabliert, daß sie eine Art Axiom darstellte..." (W.Bauer, Geschichte der chinesischen Philosophie)

Mit anderen Worten: das patriarchalische Familienmodell - auch und gerade als Abbild einer höheren Ordnung, als Bild des Verhältnisses zwischen Himmel und Erde - war eine Grundvoraussetzung des chinesischen Denkens.

In diesem Modell steht der Vater (Fu) an der Spitze der Hierarchie. Ihm zur Seite steht - wenn auch nicht auf gleicher Augenhöhe - die Mutter (Mu). Die Kinder (Xiaohai) sind ihren Eltern zu großem Dank verpflichtet, weil ihnen die Eltern das unbezahlbare Geschenk des Lebens gemacht haben. Sie bleiben deshalb für immer gegenüber ihren Eltern in der Schuld.




Schriftzeichen Fu, Mu und Xiaohai

Konfuzius galt die "kindlichliche Pietät" Xiao als Kardinaltugend. Pietät, also allgemein ein auf sittlichem Empfinden und auf Verehrung beruhendes Pflichtgefühl, sollte sich im Verhalten der Kinder gegenüber ihren Eltern und den Alten der Familie in Respekt und Dienstbereitschaft ausdrücken. Es ging dabei eben einerseits um den Aspekt der Fürsorge für die Eltern, andererseits aber auch um die Frage der Achtung vor ihnen und ihrer Wertschätzung.




Schriftzeichen Xiao, in der Übersetzung
"Kindliche Pietät"

Dabei spielte die Folgsamkeit, die absolut bedingungslose Unterwerfung unter den befehlenden Willen des Vaters eine bedeutsame Rolle. Unter der Sui- und Tang-Dynastie (589 - 906 n.Chr.) besaß der Vater eine nahezu uneingeschränkte Macht über das Leben seiner Kinder. Tötete ein Vater sein Kind, weil es ungehorsam war, ging er häufig straffrei aus. Umgekehrt gehörte allerdings Gewalt gegen die Eltern oder gar Elternmord zu den schlimmsten denkbaren Verbrechen überhaupt.


    

Schriftzeichen Sui Chao und Tang Chao,
in der Übersetzung "Sui-Dynastie" und "Tang-Dynastie"

Konfuzius lebte zu einer Zeit, die durch starke Erschütterungen der Gesellschaft geprägt war. Sein Streben galt der Stabilisierung der Verhältnisse auf der Basis einer festgefügten Ordnung. Die Familie als kleinstes Subsystem des Staates diente bereits in vorkonfuzianischer Zeit einerseits als Modell der kosmischen Hierarchie und wurde andererseits in ihrer elementaren Funktion als Grundbaustein der Gesellschaft gewürdigt. "Funktionierte" die Familie nicht, dann konnte es auch um die Gesellschaft nicht gut bestellt sein.

Von dieser Überlegung ausgehend kam Konfuzius zu dem Schluß, daß die Etablierung einer geordneten Gesellschaft die geordnete Familie zur Voraussetzung habe. Familiäre Ordnung, das hieß Unterwerfung aller Familienmitglieder unter strenge Regeln gegenseitiger Verpflichtungen. Ordnung im Staat hielt Konfuzius nur dann für erreichbar, wenn sich der Einzelne selbstbeschränkte, seinen Neigungen nicht hemmungslos nachgab, sondern sich den Interessen der Gemeinschaft unterordnete.

In einem konfuzianischen "Verhältniskatalog", dem Wulun, wurden alle elementaren zwischenmenschlichen Beziehungsvarianten aufgeschlüsselt und die jeweils gültigen Verhaltensregeln festgeschrieben. Wulun bedeutet "Fünf Beziehungen", hierunter wurden die Verhältnisse zwischen Vater und Sohn, Fürst und Untertan, Mann und Frau, Alt und Jung sowie unter Freunden gezählt.




Schriftzeichen Wulun, in der Übersetzung
"Fünf Beziehungen"

Dieses Konzept erklärt, weshalb auch unter den Kindern der traditionellen Familie eine Hierarchie herrscht, die genau regelt, wer sich wem gegenüber wie zu verhalten hat: An der Spitze dieses Systems steht der jeweils ältere Bruder (Xiong) bzw. die ältere Schwester (Jie), die von dem jüngeren Bruder (Di) bzw. der jüngeren Schwester (Mei) entsprechende Demonstrationen des Respekts erwarten dürfen.

Wie man hier sieht, gründet der Respekt im konfuzianischen Familienmodell nicht direkt auf der Wertschätzung bestimmter Leistungen oder Qualitäten. Ein Sohn schuldet seinem Vater Respekt, weil dieser sein Vater ist. Auch ein schlechter Vater ist und bleibt Führungsfigur der Familie, und dies allein begründet bereits die Forderung nach Unterwerfung, Respekt und Fürsorge.

Allerdings hat Konfuzius die Verpflichtung zum Respekt gegenüber den Hierarchiehöheren eingeschränkt, indem er sagte, das Befolgen von Befehlen eines amoralischen Herrschers sei nicht tugendhaft. Diese eigentlich fortschrittliche Haltung wird jedoch durch die Tatsache relativiert, daß in der Realität der Umsetzung konfuzianischer Konzepte durch staatliche Institutionen ein Sohn, der seinen Vater anklagte, nicht selten mit dem Tode bestraft wurde, unabhängig davon, ob die Beschuldigung der Wahrheit entsprach oder nicht.

Konfuzius ging davon aus, daß die Hierarchieoberen ihrer Stellung entsprechend danach streben mußten, sich gemäß besonders hoher moralischer Werte zu verhalten. Auf die Struktur der Familie übertragen heißt das, auch und gerade ein Familienoberhaupt hatte sich gewissen Pflichten zu unterwerfen, er durfte nicht nach Gutdünken walten, sondern mußte sich seiner Rolle als würdig erweisen.


Die Bedeutung des Lernens

Ein weiterer äußerst wichtiger Aspekt in der Diskussion um die Frage der Meisterverehrung ist das Verstehen der traditionellen Bedeutung des Lernens, also des Studiums. Begreift man nämlich, weshalb und in welchem Maße das Lernen gemäß traditioneller Vorstellungen als Prozeß der Höherentwicklung, der Selbstkultivierung und Persönlichkeitsveredlung gilt, dann klärt sich damit auch die Frage nach der Verehrung des Lehrers.

Das Studieren (Xue) besitzt bei Konfuzius einen deutlich höheren Stellenwert als das Denken (Si): "Lernen ohne zu denken ist sinnlos, aber Denken ohne Lernen ist gefährlich."

Dahinter verbirgt sich möglicherweise die Auffassung, daß dem freien, ungehemmten Denken ein gewisses amoralisches und auch anarchistisches Potential innewohnt, hingegen das Lernen (von den Vorfahren) immer einen deutlichen Bezug zu den Werten der Vergangenheit aufweist.

Das Studium wurde von Konfuzius allgemein als Weg zu Moralität und Erkenntnis angesehen, Lernen galt als bewährte Methode, um aus dem schwachen, kleinen, egoistischen Menschen (Xiao Ren) den "Edlen" (Junzi) zu formen.




Schriftzeichen Junzi, in der Übersetzung "Edler"
und Xiao Ren in der Übersetzung "Kleiner Mensch"

Auch in den Schulen von Daoismus und Buddhismus sah man das Studium als Weg zur Vervollkommnung an, wenngleich man hier vollkommen andere Verfahren als in konfuzianischen Schulen anwendete. In jedem Falle aber mußte der Schüler einen "Weg des Lernens" beschreiten, der häufig auch ein "Weg des Ver-Lernens", also des Abtrainierens schädlicher Denk- und Verhaltensweisen, sein konnte. Das Gehen dieses Weges galt als Prozeß der Selbstkultivierung, Selbstklärung usw. Erst durch diese Art der Vervollkommnung wurde man gemäß daoistischer Vorstellung zum "Wahren Menschen" (Zhen Ren) oder gemäß buddhistischer Lehre zum "Weisen Menschen" (Sheng Ren).


        

Schriftzeichen Zhen Ren, in der Übersetzung "Wahrer Mensch"
und Sheng Ren, in der Übersetzung "Weiser Mensch"

Da nun jedenfalls den traditionellen Vorstellungen entsprechend der gesamte Prozeß von Lehren und Lernen gewissermaßen als heilig galt, denn er führte ja den "Kleinen Menschen" zu einer ungleich höheren Stufe des Menschseins, kam auch dem Lehrer eine höchst bedeutsame Rolle zu, denn er besaß das, was der Schüler gerne hätte, nämlich Wissen und Fähigkeiten, und er war das, was der Schüler gern wäre, nämlich ein verwirklichter, das heißt ein gereifter und vervollkommneter Mensch.

Ein Meister der Malerei, Dichtkunst, Tanz, Theaterkunst - also gleich, welcher Kunst oder Wissenschaft, ist das lebendige Beispiel für die Brückenfunktion der Kunst, der gemäß der Anfänger zunächst aus dem Reich des schwachen, im Grunde wertlosen, ja sogar gefährlichen Menschen kommend durch das Absolvieren von Training, Prüfung, Erziehung, Unterweisung, Test usw. allmählich in das Reich des starken, wahren, edlen, weisen, ja heiligen Menschen gelangt.

Der Schüler am Anfang seiner Ausbildung verdient nicht die Achtung des "echten Menschen", aus diesem Grunde muß er die niedrigsten Arbeiten verrichten und wird von den älteren Schülern häufig drangsaliert, in jedem Falle nur geduldet, keinesfalls jedoch respektiert. Hat er im Verlauf seiner langjährigen Ausbildung Geduld, Mut, hohe moralische Werte und vorbildliche kämpferische Fähigkeiten bewiesen, dann gehört er irgendwann selbst zu den Älteren und prüft nun seinerseits den Charakter der neuen Schüler.


Der Kung Fu-Meister, ein Lehrer-Vater

Wir haben die traditionelle Bedeutung des Lehrers (Shi) und des Vaters (Fu) betrachtet und können uns nun mit dem Wissen um die herausragende Kulturfunktion dieser beiden Figuren der traditionellen Gestalt des Kung Fu-Meisters nähern, der gewissermaßen die Rolle von Lehrer und Vater vereint. Wir wissen ja bereits, daß der Titel Shifu, also "Lehrer-Vater", eine gängige Form der Anrede für den Kung Fu-Meister darstellt.

Das ausgesprochene Wort Shifu kommt für die Bezeichnung eines Meisters in der chinesischen Sprache in zwei Varianten vor, das heißt es existieren zwei verschiedene Schriftzeichen, die allerdings ähnlich ausgesprochen werden und nach der Pinyin-Methode beide mit Shifu transkribiert werden.

Die im Kontext der Kampfkünste übliche Bezeichnung für den Meister setzt sich, wie bereits beschrieben, aus den Komponenten Shi für "Lehrer" und Fu für "Vater" zusammen. Daneben existiert eine zweite Bezeichnung für "Meister", die allerdings niemals in den Kampfkünsten verwendet wird, sondern allgemein für eine Person, die Instruktionen (Unterricht) erteilt und zwar in Beruf, Handwerk oder Kunst.

Dieser Shifu-Begriff wird als verbindliche Anredeform auch im Dienstleistungsbereich (z.B. für Taxifahrer, Wachpersonal etc.) benutzt und setzt sich aus den Komponenten Shi für "Lehrer" und Fu ebenfalls für "Lehrer" zusammen.


          

Zwei Schriftzeichen Shifu, beide in der Übersetzung "Meister",
die erste Variante wird in den Kampfkünsten verwendet
(wörtlich: "Lehrer-Vater") und die zweite Variante im
Handwerk/ Dienstleistungsbereich (wörtlich: "Lehrer-Lehrer")

Auf einen Meister der Kampfkunst wird niemals dieser zweite Begriff verwendet, sondern stets der "Lehrer-Vater"-Titel. Interessanterweise ist das Meister-Schriftzeichen der Kampfkünste auch in einem anderen Bereich der chinesischen Kultur weit verbreitet: Sowohl buddhistische als auch daoistische Mönche werden mit dem ehrenden Titel Shifu angesprochen.

Dies ist ein deutlicher Hinweis auf die spirituelle Dimension des in der Kampfkunst üblichen Shifu-Begriffs. Hier fließen alle möglichen Aspekte des Lehrens, der Erziehung, der Vermittlung geheimen Wissens, der Vorbereitung auf das Leben und eben auch der Ausübung von Autorität zusammen.

Denn es darf nicht vergessen werden, daß der chinesische Vater-Begriff ein autoritärer ist: Das Schriftzeichen Fu ist die symbolische Darstellung des Erzwingens bzw. Durchsetzens von Regeln mit Hilfe zweier Schlagstöcke, also mit Hilfe autoritärer Gewalt.




Schriftzeichen Fu, in der Übersetzung "Vater"

Die Rolle des Meisters in den chinesischen Kampfkünsten wird also einerseits durch die überkommenen Prinzipien der familiären Hierarchie bestimmt und andererseits durch jene traditionelle Auffassung von der kultivierenden Funktion des Erlernens einer Kunst.


Die Kung Fu-Familie

All die oben im Zusammenghang der patriarchalischen Familie erwähnten Strukturen und Regeln gegenseitiger Pflichten und Rechte treffen wir auch in der traditionellen Kung Fu-Familie an. Hier wird den Namen der einzelnen Familienmitglieder das Wort "Lehrer" Shi vorangestellt: Der Meister ist der Lehrer-Vater, Shifu. Seine Frau nimmt die Rolle der Lehrer-Mutter ein und wird mit dem schönen Titel Shimu angesprochen. Der älteste, das heißt fortgeschrittenste männliche Schüler wird von seinen Mitschülern mit dem Namen Da Shi Xiong angesprochen, das bedeutet "Ältester Bruder".


     

Schriftzeichen Shimu "Lehrer-Mutter"
und Da Shi Xiong "Ältester Bruder"

Die Anrede der fortgeschrittenen männlichen Schüler lautet Shi Xiong - "Älterer Bruder", der fortgeschrittenen weiblichen Schüler Shi Jie - das heißt "Ältere Schwester". Die Fortgeschrittenen sprechen die neueren Schüler entweder mit Shi Di ("Jüngerer Bruder") oder Shi Mei ("Jüngere Schwester") an.

     

Schriftzeichen Shi Xiong "Älterer Bruder"
und Shi Jie "Ältere Schwester"


     

Schriftzeichen Shi Di "Jüngerer Bruder"
und Shi Mei "Jüngere Schwester"

Im Gegensatz zur herkömmlichen Familie zählt in der Hierarchie der Kung Fu-Schule nicht die physische Geburt, sondern die Geburt im Kreise der Kung Fu-Familie, das heißt der Zeitpunkt des Eintritts in die Kung Fu-Schule. So wird verständlich, weshalb beispielsweise ein vierzigjähriger Schüler seinen zehn Jahre jüngeren Meister mit dem Titel "Lehrer-Vater" anspricht.

Traditionell hatte die Aufnahme eines Anwärters in den Kreis der wirklichen Schüler einen sehr formellen Rahmen. Es wurde nämlich ein Ritus mit dem Namen Baishi (etwa "Grüßen des Lehrers", wird aber für den gesamten zeremoniellen Ablauf der Aufnahme in die Schule verwendet) durchgeführt, erst danach konnte ein Anwärter, der bisher lediglich ein informeller Schüler des Lehrers war, sich zur eigentlichen Kung Fu-Familie des Meisters zählen, erst ab diesem Punkt war der Meister tatsächlich "sein" Shifu.




Schriftzeichen Baishi

Eine zentrale Geste des Baishi war das Niederwerfen (im Westen haufig als "Kotau" bezeichnet) vor dem Lehrer, bei der man in knieender Position mit der Stirn dreimal den Boden berührte, um die totale Unterwerfung unter den Willen des Meisters auszudrücken. Das Baishi-Ritual war der äußere, symbolhafte Vollzug des "Durchschreitens der Pforte" Ru Men, ein Begriff der besagt, daß der Anwärter die Pforte, also das Tor zum Haus des Lehrers durchschritten hat und nun ein vollwertiges Mitglied der Kampfkunst-Familie darstellt.




Schriftzeichen Ru Men, in der Übersetzung
"Durchschreiten der Pforte"

Kommen wir nun zu der Frage, welches Wissen der Kung Fu-Meister eigentlich lehrt und welche traditionellen Vorstellungen die Vermittlung dieses Wissens prägen.

Es ist offensichtlich, daß zwischen der Kunst des Kampfes und anderen traditionellen Künsten ein bemerkenswerter Unterschied besteht: Während das Studium von Kalligraphie, Dichtkunst, Malerei usw. zwar eindeutig den Prozeß der Persönlichkeitskultivierung beinhaltet, so verleiht das Beherrschen dieser Künste jedoch nicht jene Macht über Leben und Tod, wie es die Kampfkunst vermag.

Die Fähigkeit, einen anderen Menschen "mit bloßen Händen" zu töten ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Waffe, sie darf nur solchen Menschen gelehrt werden, die damit weise umzugehen verstehen. Je egoistischer ein Mensch sich grundsätzlich verhält, desto gefährlicher wird er, wenn man ihn mit der Waffe der Kampfkunst ausrüstet.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß eine Kunst, die dem Übenden Macht über Leben und Tod verleiht, besondere Maßstäbe hinsichtlich moralischer Integrität entwickeln muß, wenn sie nicht Werzeug destruktiver Absichten sein will. Diese Maßstäbe sind im Wude verankert, einem klassischen Tugendkatalog, der formuliert, welchen Ansprüchen ein Krieger gerechtet werden muß.


Das Wude - Über die Moral des Kriegers

Der überlieferte Kanon des Wude umfaßt zwei Kategorien, nämlich die Tugenden des Handelns und die Tugenden des Geistes. Ein wahrer Schüler der Kampfkunst muß sich in beiden Bereichen auszeichnen, nur dann wird ihn der Lehrer in die tiefsten Geheimnisse der Kunst einweisen.

Zu den Tugenden des Handelns werden gezählt:

1. Demut (Qian Wu)
2. Achtung (Zun Jing)
3. Rechtschaffenheit (Zheng Yi)
4. Vertrauen (Xin Ying)
5. Loyalität (Zhong Cheng)

Zu den Tugenden des Geistes werden gezählt:

1. Wille (Yi Zhi)
2. Ausdauer (Ren Nai)
3. Beharrlichkeit (Yi Li)
4. Geduld (Heng Xin)
5. Mut (Yong Gan)

Es soll in dieser Betrachtung allerdings nicht um die Inhalte das Wude gehen, sondern um die Frage, wie der Lehrer sicherstellt, daß seine Schüler die Ansprüche des Wude erfüllen. Schaut man sich die zentralen Forderungen des Wude an, wird deutlich, daß derartige Attribute nur systematisch von Menschen entwickelt und folglich demonstriert werden können, die sich speziellen Tests unterwerfen.




Schriftzeichen Wude, mögliche
Übersetzung "Ethik des Kampfes"

Erst wenn man begreift, daß traditionelle Kampfkunst gleichermaßen Test als auch Übung des Charakters darstellt, kann man nachvollziehen, worauf die besondere Stellung des Meisters gründet. Hätte der Meister keine Autorität, würde er von seinen Schülern nicht nahezu kritiklos verehrt, dann besäße er nicht die Handhabe, Übungen und Tests zu entwerfen, die seinen Schülern all das abverlangen, was das Wude beschreibt.

All dies sagt natürlich nichts darüber aus, wie zeitgemäß das "Testen des Charakters"-Konzept heute noch ist. Wenden wir uns also dieser Frage im letzten Teil des Artikels zu.


Diskussion - Wie zeitgemäß ist die traditionelle Verehrung des Meisters?

Wie wir gesehen haben, stehen Lehrer und Schüler gemäß der traditionellen Vorstellung nicht auf einer Stufe. Während der Schüler insbesondere am Anfang seiner Ausbildung lediglich einen blassen Schatten des "wahren Menschen" darstellt, ist sein Lehrer und Meister das verwirklichte Gegenstück. Der Meister hat nicht nur den gesamten Bereich des physisch-technischen Trainings bewältigt, sondern darüber hinaus ein hohes Niveau geistig-moralischer Vervollkommnung erreicht.

Entscheidend ist hier, daß der Respekt nicht von den aktuellen Fähigkeiten des Meisters abhängig gemacht wird, denn auch gerade der alte, körperlich nicht mehr zur Ausübung der Kunst fähige Meister wird hochgeehrt.

Es geht vielmehr erstens um den Respekt vor der Funktion des Meisters als Vermittler einer Kunst, Lehre und Tradition, eine Funktion, die nur dann verwirklicht werden kann, wenn sich der Meister der Loyalität und des Respekts seiner Schüler versichert.

Zweitens geht es um Respekt und Anerkennung der Tatsache, daß der Meister die in der Form eines menschlichen Lebens verwirklichte Lehre darstellt, während der Schüler zunächst lediglich das Potential für diese Verwirklichung besitzt, sich aber noch in einem - an dem Ideal der Lehre gemessen - primitiven Anfangsstadium befindet.

Beide Bedingungen können, betrachtet man sie vorurteilfrei, nicht ohne weiteres als zeit- und kulturgemäß eingeschätzt werden. Wir modernen Menschen der westlichen Welt meinen in der Regel nicht, daß es für einen Lernprozeß notwendig, ja überhaupt sinnvoll ist, sich dem Willen eines Lehrers total zu unterwerfen. Lehrer sind nach moderner, westlicher Auffassung lediglich Personen mit einer in bestimmten Fachgebieten höheren Kompetenz. Sie sind für uns nicht "wirklicher" oder "stärker verwirklicht", als ihre Schüler und Studenten.

Ich glaube, daß dies der Schlüsselpunkt für die gesamte Diskussion ist. Ein Mensch, der die elementare Prämisse von der (Selbst-) Kultivierung des Menschen durch die Kampfkunst nicht anerkennt, wird eben auch keinen Anlaß sehen, vor einem Kampfkunst-Meister den Kopf zu beugen, es sei denn aus taktischen Gründen.

Denjenigen aber, die den Kopf vor ihrem Lehrer nicht schnell genug beugen können, sei geraten, sich den Meister und seine Lehre genau anzuschauen, um nicht eines Tages festzustellen, daß sie einem Ideal hintergelaufen sind, dem nichts in der Wirklichkeit entspricht.

 


Hinweis zu den abgebildeten Schriftzeichen: In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts hat die chinesische Regierung im Rahmen einer großen Alphabetisierungskampagne viele traditionelle Zeichen vereinfacht, insbesondere sehr komplexe Zeichen wurden durch reduzierte Varianten ersetzt. Diese sogenannten Kurzzeichen Jiantizi werden in der Volksrepublik, Singapur und Malaysia benutzt, während die alten Langzeichen Fantizi von Taiwan und Hongkong verwendet werden. In den Illustrationen dieses Artikels werden Langzeichen verwendet.

 







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