Kung Fu Fiction

Enrique Martinez: Erlebnisse eines
hoffnungslosen Kung Fu-Schülers


Kapitel II - Über Kriegskunst

Meister Sun argumentierte in seinen Unterweisungen stets aus einer speziellen Perspektive heraus, die er die Sicht des Kriegers nannte. Zunächst hatte ich angenommen, es handle sich dabei um einen alten, auf konfuzianischen Wertvorstellungen beruhenden Krieger-Kodex. Im Laufe der Jahre, die ich bei Meister Sun als KungFu-Schüler verbrachte, begann ich jedoch zu verstehen, daß es ihm nicht um eine soldatisch-kämpferische Philosophie ging. Auch hatte das Ganze meiner Ansicht nach nicht viel mit den klassischen chinesischen Weisheitslehren zu tun. Je mehr ich davon hörte, desto weniger schien es mir mit konfuzianischen Werten vereinbar.
Als ich ihn eines Tages darauf ansprach, antworte er geheimnisvoll, die Sicht des Kriegers sei ein besonderes Wissen, etwas, das man nicht in philosophischen Schriften finden könne.
"Und welche Menschen sind zu diesem Wissen gelangt, Shifu?" Wir saßen auf einer Terrasse die zu Suns Wohnung im fünften Stock eines Mietshauses in Berlin gehörte. Von hier oben blickte man auf einen Park, auf angrenzende Straßen mit Häusern, kleinen Geschäften, Kneipen und Cafés.
"Es waren Menschen, die sich auf besondere Weise mit der Kriegskunst befaßten, Menschen, die darin mehr sahen, als eine Kunst des Tötens. Ich nenne diese Menschen Krieger", antwortete Sun nachdenklich.
"Gibt es dafür geschichtliche Quellen, Meister Sun?" fragte ich. Sicher existierte Literatur zu dem Thema. Ich beabsichtigte, mich über diese Krieger und ihre speziellen Ansichten zur Kriegskunst zu informieren.
"Was ist los mit dir? Willst du ihre Namen wissen?" Sun schien verärgert, aber gleich darauf lachte er: "Glaube mir, es ist völlig aussichtslos, etwas über die Sicht des Kriegers lernen zu wollen, indem man Bücher liest."
Ich kannte derartige Äußerungen von Zen-Meistern. Paradox daran erschien mir, daß sie stets betonten, wie sinnlos es sei, aus Büchern lernen zu wollen und dennoch selbst etliche Schriften verfaßten.
"Es ist nicht sinnlos zu lesen", sagte Sun, als hätte er meine Gedanken erraten. "Es ist jedoch sinnlos, sich vom Lesen direkte Erkenntnisse zu erhoffen." Sun führte aus, direkte Erkenntnis sei stets von konkretem Handeln und den daraus resultierenden Erfahrungen abhängig.
"Ich sehe nicht, wo da der Unterschied liegt, Shifu. Ich lese, um gedankliche Anstöße zu erhalten. Ich weiß, daß Lesen keine fertigen Erkenntnisse liefert."
"Das glaubst du vielleicht", gab Sun zurück. "Du bist eben ein Anfänger in der Disziplin der Selbstbeobachtung. In Wirklichkeit meinst du, mit dem Lesen von Worten Erkenntnis anzusammeln, und das ist nun einmal völliger Unsinn."
Ich fühlte, wie ich wütend wurde. Sun sah mich scharf an. Gerade wollte ich zu einer Erwiderung ansetzen, da sah ich in erstaunlicher Klarheit, daß Sun recht hatte. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, Informationen, die ich in der Fachliteratur oder im Internet recherchierte, mit echtem Wissen gleichzusetzen. Ich handhabte diese Informationen so, als hätte ich die Dinge, die sie betrafen, selbst erfahren.
"Ein Krieger unterscheidet sich von den anderen Menschen durch die Art seines Wissens", erläuterte Sun. "Während sich der Durchschnittsmensch mit Buchwissen befaßt, widmet der Krieger seine ganze Kraft dem Erringen eines Wissens, das nur durch konkrete Taten gewonnen werden kann. Konkrete Taten gehen über rationales Denken hinaus."
Ich wußte darauf nichts zu antworten. Der ewige Warum-Frager in mir hätte sicher gern weitere Details zu dieser Sache wissen wollen, aber im Augenblick war ich sprachlos. Es war, als gäbe es dazu einfach nichts mehr zu sagen.
"Wenden wir uns lieber der Frage zu, welche Bedeutung jene Menschen in der Kriegskunst sehen, die ich Krieger nenne", sagte Sun. Er führte aus, wie wichtig es sei, den Krieger als einen Menschen zu begreifen, der die Methoden der Kriegskunst auf die Lösung des Konflikts innerhalb der eigenen Psyche anwende.
"Von welchem Konflikt sprichst du, Sun?" fragte ich.
"Ich spreche vom ewigen Konflikt des Menschen, vom Kampf im Inneren der Seele, von jenem Krieg, der in Brust und Kopf jedes Menschen tobt", antwortete Sun.
"Und worum geht es bei diesem Krieg?" fragte ich weiter.
"Es geht dabei um die Frage, wie wir der Dunkelheit entrinnen können. Es geht um die Frage, wie wir unser Denken und Handeln gestalten können, um im Einklang mit jenen Kräften zu leben, die unser Dasein prägen." Sun schien mit seiner Erklärung zufrieden. "Schreib das ruhig auf, wenn du möchtest", setzte er vergnügt hinzu.
"Meister Sun, mir scheint diese Verbindung von Kriegskunst und Sinnsuche sehr willkürlich. Ehrlich gesagt klingt es eher so, als wolle jemand etwas in die Kriegskunst hineinlesen, was da einfach nicht ist." Meine Kritik war ernst gemeint, doch Sun beachtete sie gar nicht.
"Das Leben ist für jeden Menschen schwierig", führte er seine Gedanken fort. "Früher oder später stößt jeder Mensch auf Widerstände, auf Schwierigkeiten. Kann man diese Widerstände nicht überwinden, dann bleibt das Leben unerfüllt. Leider ist ein unerfülltes Leben das Schicksal vieler Menschen." Er sah mich an. Ich fühlte mich angesprochen.
"Wenn du die Richtung deines Lebens ändern willst, Enrique, dann begib dich auf den Weg des Kriegers. Lerne, die Welt mit den Augen eines Kriegers zu sehen."
"Und was sehe ich dann?" fragte ich.
"Du wirst eine Welt entdecken, in der es keine Langweile und auch kein hektisches Getriebensein gibt", antwortete Sun. "In der Welt des Kriegers ist jeder Augenblick reich und erfüllt."
"Klingt ja toll", gab ich zurück. Sun ignorierte den Unterton meiner Bemerkung.
"In der Welt des Kriegers gelten die Gesetze des Durchschnittsmenschen nicht. Es ist eine vollkommen andere Ebene des Empfindens, Denkens und Handelns."
In diesem Augenblick war ich mir sicher, daß Sun lediglich die Überlegenheit seiner Sicht der Dinge betonen wollte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was er mit einer anderen Ebene des Empfindens, Denkens und Handelns meinte. Seit diesem Nachmittag sind mehr als zehn Jahre vergangen. Ich sehe die Welt nun mit anderen Augen, ich sehe sie mit den Augen des Kriegers. Sun hatte nicht übertrieben. Meine Art zu fühlen, zu denken und zu handeln hat sich gravierend verändert.
Wenn ich nach dem wichtigsten Impuls für diese Veränderungen suche, fällt mir ein Wort Meister Suns ein, das er mir im Laufe der Schulung wieder und wieder einschärfte: "In der Welt des Kriegers ist der Tod der große Jäger. Alles, was ein Krieger tut, hat direkt oder indirekt mit dem Tod zu tun. Der Krieger lebt sein Leben im Bewußtsein des Todes, des großen Jägers, der jederzeit zuschlagen kann."




Fortsetzung folgt