Interview mit Martin Rätz,
KFSB:
In welchem Stadtbezirk unterrichten Sie? KFSB: Welchen Kung Fu-Stil unterrichten
Sie, und wie würden Sie diesen Stil charakterisieren? Zum Chen Shi Taijiquan
Schriftzeichen "Chen Shi Tai Ji Quan" Charakteristika des Stils Philosophie Kampftechnik Aufbau des Systems Wie in der Kalligraphie wird bei einem Endpunkt nicht mehr abgesetzt, sondern eine Bewegung mit der nächsten vermittels einer Schleife verbunden. Dies führt in Europa zu Mißverständnissen, wie: "Taiji ist Meditation in der Bewegung". Die korrekte Ausführung einer Stellung erfordert beim Anfänger höchste geistige und körperliche Anstrengung und ruft Muskelschmerzen hervor, weswegen beim allgemein verbreiteten "öffentlichen" Taijiquan Vereinfachungen vorgenommen wurden. Der Erste Weg besteht aus langsam ausgeführten Bewegungen, die in schnelle und harte Energieentladungen münden. Beim Zweiten Weg, der "Kanonenfaust", folgen jeweils mehrere explosive Bewegungen hintereinander. - Anmerkung: Die anderen, Taiji-Stile (Yang, Wu, Wu/Hao, Sun) und das moderne Taijiquan-Yundong (z.B. 24'er "Peking-Form") leiten sich von der Yilu, dem Ersten Weg, des Chen-Stiles her. Explosive, harte Bewegungen (fajin), Stampfen und Sprünge wurden bis auf wenige Ausnahmen (Alter Yang-Stil) eleminiert. - Tuishou - "Schiebende bzw. stoßende Hände" (engl.: Push Hands): -spezielle Partner-Übungsform des Chen-Stiles, vergleichbar etwa mit dem Chi-Sao ("Klebende Hände) beim Wing Tsun/Chun. Taolu entwickelt das Gefühl für die eigene Technik, Tuishou das Gefühl für den Partner. Die Acht Armhaltungen und Fünf Schrittarten (sanshi shi - 13 Stellungen), sprich: Anwendungen der Schläge, Hebel, Würfe werden durch das Tuishou automatisiert. Die Fähigkeiten des intuitiven Erfühlens (ting), Interpetierens (dong) und Neutralisierens (hua) der gegnerischen Angriffsenergie (jin) und die Fähigkeit, die eigene Energie explosiv einzusetzen (fa jin) wird entwickelt. Tuishou wird auch als eigenständiger Wettkampfsport ausgeübt. Die Zweikämpfe finden auf einer Plattform statt und ähneln dem japanischen Sumo. Mit diesem besteht sogar über die chinesische Urform, das Xiangpu, eine jahrtausendealte Verwandtschaft. Tuishou ist allerdings weitaus komplizierter als Sumo und man braucht Technik statt Kraft und Masse. - Sanshou - Der Freikampf: Tuishou ist die Vorstufe zum Sanshou. San bedeutet: "sich voneinander lösen", während man beim Tuishou noch auf Armabstand zusammen steht. Der eigentliche reale Kampf, das Sanshou, ist Ziel und Zweck einer traditionellen Kung Fu-Ausbildung. Dabei ist "Kampf" als defensive Maßnahme zum Schutz gegen feindliche Übergriffe zu verstehen. Heutzutage, insbesondere in Europa, werden jedoch die vorbereitenden Maßnahmen, welche zur Ausbildung des "Kriegers" und zum Erhalt seiner Gesundheit und Kampfkraft dienen i. d. R. mit der eigentlichen Kriegskunst (Wushu) bzw. Kampfkunst (Quanshu) verwechselt. Die Kampfkunst im engeren, eigentlichen Sinne besteht im Gebrauch der technisch-taktischen Elemente im Kampf. Dies ist wichtig zu wissen, für Personen, die eine Kampfkunst zum Zwecke der Selbstverteidigung oder aus beruflichen Gründen (Polizisten; Soldaten, Wachleute und Personenschützer) erlernen wollen. - Waffenformen: Der Chen-Stil enthält eine große Auswahl traditioneller Waffenformen, wie Schwert, Speer und Hellebarde. Diese können außerhalb des obligatorischen Unterrichts auf speziellen Work-Shops erlernt werden. - Taiji-Qigong: Schüler, die den Chen-Stil aus rein gesundheitlichen Gründen oder als Ausgleich und Entspannung erlernen wollen, können die Formen in vereinfachter Ausführung unter Betonung des energetischen Aspektes (Qi) erlernen. Das Qigong des Chen-Stiles ist aber auch die Voraussetzung zum effektiven Einsatz der Techniken im Kampf. Taijiquan ist an sich schon eine eigenständige Form des Qigong, weshalb die heute (allerdings nicht im Mutterland China!) verbreitete Kombination "Taijiquan & Qigong" etwa so sinnvoll ist, wie "Mercedes & Auto". - Sanda - Das "Chinesische Kickboxen" ist die moderne sportliche Form des Sanshou. Ebenso wie beim Taiji-Sanshou haben auch die anderen Kung Fu-Stile (eigentlich: Wushu-Stile) ihre Art frei zu kämpfen (Sanshou). Daraus wurde unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten ein stilübergreifendes System entwickelt. Es besteht aus wenigen, leicht zu erlernenden Grundtechniken ( "Fünf Schläge, Fünf Tritte", fünf Kategorien von Würfen und 6 Schrittarten), die aus einer einzigen Kampfstellung heraus ausgeführt werden. Die Wirksamkeit beruht auf den vielfältigen Kombinations- und Variationsmöglichkeiten. Sanda ist ideal für die Jugend, kann aber auch im Alter weiterbetrieben werden. Im Sanda gibt es ebenfalls wie im Tuishou nationale und internationale Wettkämpfe. - Taiji-Selbstverteidigung (Taiji Ziwei Shu): Hierbei handelt es sich um einen an unserer Schule entwickelten Komplex stilübergreifender Kampfanwendungen in speziellen Selbstverteidigungssituationen. Taijiquan selbst ist keine reine "Selbstverteidigung", sondern eine komplexe "Kriegskunst", die früher auf dem Schlachtfeld angewendet wurde. Aus den sehr umfangreichen Übungskomplexen des Chen-Stiles mußte also eine einfach zu erlernende und sicher anwendbare Auswahl getroffen werden. Diese Techniken mußten zu den heute allgemein verbreiteten Kampftechniken, die vor allem aus Judo, Jiu-Jitsu, Karate, Aikido und in den letzten Jahren auch aus chinesischen Stilen, vor allem Wing Tsun (bzw. Wing Chun), sowie Kickboxen, Muhai Thai und militärischem Nahkampf stammen kompatibel sein. Insbesondere unsere Schüler von der Polizei brauchten Techniken, die den Gegner schonen. Der Chen-Stil erwies sich als die ideale Grundlage für die Entwicklung einer effektiven Kunst der Selbstverteidigung. Die Kenntnisse anderer Stile sowohl von meinen chinesischen Meistern, einiger Schüler als auch mein jahrelanges Judo-, Karate, Aikido- sowie Wushu- und Sanda-Training, auch meine Ausbildung während des Wehrdienstes bei der Bereitschaftspolizei erwiesen sich als sehr hilfreich. Taiji-Selbstverteidigung erhebt nicht den Anspruch, ein neues System darzustellen. Vielmehr ist es eine andere Art traditionelle Techniken einfach und effektiv einzusetzen. KFSB: Welche Voraussetzungen sollte
ein Schüler der bei Ihnen beginnen möchte mitbringen? KFSB: Wie verläuft die Kung Fu-Ausbildung
an Ihrer Schule? Erwachsene lernen mehr Technik und traditionelle Formen. Die Ausbildungszeit bis zum ersten Meistergrad beträgt ca. 6 Jahre, mit externem Studium in China oder/ und Intensivausbildung ca. 4 Jahre. Wettkampfreife Sanda, ca. 1 - 2 Jahre (Amateure), Semi-Profi ca. 4 Jahre, Profi-Ausbildung in Verbindung mit externem Studium in China Selbstverteidigung Grundstufe ½ Jahr. KFSB: Wie lang ist eine Trainingseinheit
und wie verläuft das Training? Der allgemeine Ablauf wird bei den Erwachsenen und älteren Jugendlichen in Abständen ersetzt, durch thematische Arbeit. Erwärmung und vorbereitende Übungen, wie Dehnung können durch direkte Arbeit an den Formen und Partnerübungen ersetzt werden, indem deren Intensität nach und nach gesteigert wird. Dadurch wird nicht nur Zeit für umfangreichere Übungskomplexe gewonnen. Im Selbstverteidigungsfall kann man sich auch nicht erst warmmachen und dehnen. Manchmal kommt man auch vor Wettkämpfen nicht richtig dazu. In dem Fall muß allein die geistige Bereitschaft den Körper aktivieren. Desweiteren können nach einer harten Erwärmung feine Bewegungsabläufe sowie bestimmte Qigong-Techniken nicht mehr trainiert werden. Der Trainingsablauf wird deshalb dem Ziel der Stunde (z.B. Messerabwehr, heilende Hände, Eisenhemd, neuer Tuishou-Komplex, Taktik des Zweikampfes, Grundausbildung) untergeordnet. KFSB: Wie oft kann man bei Ihnen pro
Woche trainieren? KFSB: Spielen in Ihrem Unterricht andere
traditionelle Elemente/ Künste wie z.B. Löwentanz eine Rolle? KFSB: Welchen Stellenwert besitzen
Formen in Ihrem Unterricht? Taolu-Training ist sehr wichtig. Eine Lu ist ein "in Körpersprache geschriebenes Lehrbuch", um einen Ausdruck aus dem Aikido zu benutzen. Die Chinesen sagen: "Alles kommt von der Form." Formen sind gleichzeitig eine sehr effektive Form des physio-mentalen Trainings. Allerdings ist die Form wegen des Inhalts da. Wenn der Inhalt, das Wesentliche, erfaßt wurde, kann man auf die äußeren Formen verzichten. Die Chinesen sagen: "Laßt uns die Fische behalten und das Netz vergessen." Wenn wir unser Ziel, die Überquerung eines Wassers erreicht haben, können wir das Boot zurücklassen. Oft verselbständigen sich die Formen jedoch vom bloßen Mittel zum eigentlichen Zweck. Viele glauben, wenn sie ihre Form irgendwann gut genug beherrschen, können sie auch gut kämpfen. Das ist Unsinn. Man kann aber besser kämpfen, wenn man seine Form gut beherrscht. Das Sunzi Bingfa (Kriegskunst) lehrt, daß eine (scheinbar) formlose Kriegskunst klar erkennbaren Formen überlegen ist. Bruce Lee bezeichnete die Formen als: "systematisierte Akte der Verzweiflung". Da ist was dran. Man sollte wissen, daß die wenigsten Formen, die heute verbreitet sind, noch über irgend einen wirklichen Inhalt verfügen. Gesetzt der Fall, der chinesische Lehrer kennt den Inhalt wirklich noch (das ist bei vielen echten Nachkommen traditioneller Stile zum Glück der Fall), wird er ihn nur an ausgesuchte Schüler (Tudi) weitergeben. KFSB: Welche Rolle spielen Beintechniken
(Fußschläge) in Ihrem Training? Eine (nordchinesisch orientierte) Anfängerausbildung beginnt immer mit der Ausbildung der Stellungen, Schritte und Tritte um ein festes Fundament im unteren Körperbereich bei gleichzeitig hoher Beweglichkeit zu erreichen. Große Meister brauchen kaum noch Tritte einzusetzen. Wenn man auch selbst weniger Tritte anwenden möchte, z.B. weil sie als Selbstverteidigung nicht effektiv sind, müssen die Schüler alle Tritte lernen. Wie soll man lernen, sich gegen Tritte zu verteidigen, wenn der Trainingspartner (wie z.B. viele Aikidoka) keine beherrscht? Trittechnik, und diese ist ohne Meditation und Dehnungsübungen undenkbar, besitzt auch einen hohen gesundheitlichen und körperbildenden Wert. In meinem Training spielt die Erarbeitung sämtlicher Wushu-Beintechniken deshalb eine wichtige Rolle. Ob der Schüler ein Fußtechniker oder ein Handtechniker wird, hängt von seinen Anlagen ab. KFSB: Welche Rolle spielt der Freikampf
in Ihrem Unterricht? Traditionelle Meister und Methodiker des modernen Boxens warnen davor, zu früh seine Kräfte im Zweikampf zu messen. Angst und Verkrampfung ist die Folge, was wiederum in Brutalität mündet. Beim Freikampf herrscht auch ein erhöhtes Verletzungsrisiko. Da Freikampf also ein heißes Eisen ist, fassen es viele "Lehrer" der Kampfkünste lieber gar nicht erst an (machen aber dafür gern große Versprechungen für die Zukunft, wie gut man kämpfen kann, wenn man ihren Stil nur lange genug trainiert). Der reale Kampf ist Sinn und Zweck einer Kampfkunst, wenn sie diesen Namen verdienen will. Gleichzeitig ist das physio-mentale Training der Kampftechniken die Grundlage für das Erreichen höherer geistiger Ebenen ebenso, wie es die Gesundheit stärkt. Wir können die körperliche und technischen Ausbildung sowie die Gesundheitspflege der Grundstufe zuordnen, die taktische Ausbildung und den eigentlichen Kampf der Mittelstufe und die philosophische Ebene bildet sowohl die Oberstufe wie sie auch gleichzeitig die theoretische Ausgangsbasis darstellt. Für mich stellt der Kampf "das Kriterium der Wahrheit" dar. Ich kenne mehrere wirklich hochrangige chinesische Meister des Wushu. Obwohl alle äußerst friedliebende, bescheidene Menschen mit einer hohen Philosophie und Moral sind, ist unter ihnen keiner, der nicht ausgezeichnet kämpfen kann. Der Kampf ist gleichzeitig eine Form der Meditation. Die Gefahr bewirkt eine gesteigerte Konzentration, wobei sich pathologische Spannungen im Hirn abbauen und was eine tiefe Entspannung bewirkt. Während eines Kampfes sind ständig neue Strategien zu entwickeln und blitzschnelle Entscheidungen zu treffen. Man muß auch vieles lernen und sein Wissen ständig erweitern. So bleibt nicht nur der Körper, sondern auch der Geist fit. Die Frage, welche Rolle der Freikampf in meinem Unterricht spielt, verwundert mich ebenso, als wenn jemand fragen würde, welche Rolle denn das Fahren in einer Fahrschule spiele. So wie eine Fahrschule das Fahren und eine Malschule das Malen lehrt, lehrt meine Kampfkunstschule das Kämpfen. KFSB: Wird bei Ihnen auf SV-Anwendungen
(Selbstverteidigung) eingegangen? KFSB: Spielt Akrobatik im Unterricht
eine Rolle, muß man sehr fit und beweglich sein? KFSB: Finden auch Wettkämpfe statt?
KFSB: Gibt es ein Angebot für
Kinder? KFSB: Werden Waffentechniken unterrichtet?
Einige Techniken mit dem Langstock gehören zur Grundausbildung im Chen-Stil. Dabei wird der Stock nicht als Waffe, sondern als Trainingsgerät benutzt. KFSB: Spielt geistige Übung (z.B.
Meditation) in Ihrem Unterricht eine Rolle?
Lehrer: Shifu Martin Rätz
Der Ehrenkodex der Chen Die in der Chen-Familie überlieferten
12 Gebote und 20 Verbote gehen auf alte daoistische, konfuzianische und
buddhistische Lebensweisheiten, soziale Normen und Klosterregeln zurück.
Sie dienen als Richtschnur für die persönliche charakterliche
Entwicklung, stellen jedoch keine Dogmen dar, die die freie Entscheidung
über die eigene Lebensführung behindern.
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